NS-Euthanasie und Zwangssterilisation
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Annas Schicksal - der Anlass für diese Website
Diese Website entstand, nachdem ich 2003 per Zufall erfahren
hatte, dass Anna Lehnkering, die Schwester meines Vaters,
der NS-"Euthanasie" zum Opfer gefallen war. Im Verlauf
meiner Spurensuche fand ich verschiedene Stationen, die
ihren Leidensweg von der Ausgrenzung, über die Entwürdigung,
bis hin zur psychischen und schließlich physischen
Vernichtung markieren. Im Februar 1935 wurde Anna im Ev.
Krankenhaus der Stadt Mülheim an der Ruhr
zwangssterilisiert. Im Dezember 1936 erfolgte ihre
Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, wo
sie etwas mehr als drei qualvolle Jahre verbrachte. 1940
wurde Anna im Rahmen der "Aktion T4" in die Tötungsanstalt
Grafeneck deportiert und dort am 7. März im Alter von 24
Jahren in der Gaskammer ermordet.
mehr » 2023 - zwanzig Jahre nachdem ich Annas Schicksal entdeckt hatte - erfuhr ich zum zweiten Mal in meinem Leben völlig überraschend, dass ein weiterer Verwandter Opfer von Zwangssterilisation und "Euthanasie" geworden war. Er hieß Friedel Bieber und war der Sohn einer Cousine meiner Mutter. Nach jahrelangem Aufenthalt in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau an der Lahn wurde Friedel ebenfalls zwangssterilisiert. Er starb am 11. März 1943 im Rahmen der "dezentralen Euthanasie" in der Tötungsanstalt Hadamar. mehr »
Zwangssterilisation und "Euthanasie" im Nationalsozialismus Anna und Friedel waren beide lernbehindert. An ihnen wurde - wie an hunderttausenden anderen kranken und wehrlosen Menschen - der sogenannte "Gnadentod" vollstreckt. Mit dem missbräuchlich verwendeten Begriff "Euthanasie" (griech.: guter Tod) tarnten die Nationalsozialisten zynisch und beschönigend den organisierten Massenmord an Menschen, die man als "erbminderwertige Ballastexistenzen" verunglimpfte und aufgrund von rassenbiologischen Wahnvorstellungen für "lebensunwert" erklärte. Ziel der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik war die Schaffung einer erbgesunden "arischen" Rasse. Ausgehend von sozialdarwinistischen Ideen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg - auch in anderen Ländern Europas und in den USA - Eingang in die Wissenschaften Eugenik und Rassenhygiene gefunden hatten, wurden während der NS-Zeit die politischen Instrumente geschaffen, die ein radikale Umsetzung solcher Ideen ermöglichten und zu ungeheuren Verbrechen führten. Der Holocaust, die Morde an Sinti und Roma, Homosexuellen, sogenannten "Asozialen" und behinderten Menschen sind beispiellos in der Geschichte. In einem ersten Schritt erließen die Nationalsozialisten 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Es ermöglichte die Unfruchtbarmachung gegen den Willen der Betroffenen. Die Opfer waren vor allem Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Aber das Gesetz traf auch sogenannte "Asoziale", Hilfsschüler, Alkoholkranke, Homosexuelle und andere, die - warum auch immer - nicht der gewünschten Norm entsprachen. Es wird geschätzt, dass bis Kriegsende mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Ein großer Teil von ihnen wurde später im Rahmen der "Euthanasie" ermordet. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kam es dann - beschleunigt durch ökonomische Interessen - zur völligen Pervertierung der rassenhygienischen Ideen. Im Oktober 1939 erließ Adolf Hitler eine Anordnung zur Ausrottung "lebensunwerten Lebens", zurückdatiert auf den Tag des Kriegsbeginns am 1. September 1939. In Polen wurden bereits 1939/40 Tausende Patienten und Patientinnen erschossen oder vergast. Ab Anfang 1940 begann der staatlich organisierte Massenmord im Deutschen Reich. Nach derzeitigem Forschungsstand wurden etwa 300.000 Menschen Opfer der "Euthanasie"-Morde. |
Der Ablauf der "Euthanasie" kann grob in folgende Phasen eingeteilt werden:
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Verdrängen und Vergessen Zwangssterilisation und "Euthanasie"-Morde wurden jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft verdrängt. Auch Annas Schicksal war lange Jahre vergessen – sogar in ihrer Familie. Nachdem ich 2003 erfahren hatte, was geschehen war, bin ich den Spuren ihres Lebens und Sterbens nachgegangen. Im Verlauf dieser Spurensuche stellte ich fest, dass es nach Jahrzehnten des Verschweigens und Verdrängens immer noch kein angemessenes Gedenken für Anna und viele andere Opfer gibt. Auch stieß ich bei meinen Recherchen auf unerwarteten Widerstand und Ignoranz. Aus dieser erschreckenden Erkenntnis leitete ich für mich die Verpflichtung ab, daran mitzuwirken, dass die Erinnerung nicht verloren geht und für uns und die nächsten Generationen aufbewahrt wird.
In den letzten Jahren hatte ich viele interessante und auch
berührende Begegnungen mit Menschen, die dasselbe Ziel
verfolgen wie ich: die Erinnerung an die Opfer der
NS-Medizinverbrechen wach zu halten. All die Begegnungen
ermutigen zum Weitermachen, denn "viele kleine Leute, an
vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das
Antlitz dieser Welt verändern." Die Wahrnehmung der "Euthanasie"-Verbrechen hat sich meines Erachtens in letzter Zeit im öffentlichen und politischen Bewusstsein geändert. Dieser Wandel in der Erinnerungskultur spiegelt sich deutschlandweit wider in zahlreichen Gedenk- und Erinnerungsaktivitäten.
Ein geradezu historischer Moment war der 27. Januar 2017,
als anlässlich der Gedenkfeier für die Opfer des
Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag zum ersten Mal
die Opfer der "Euthanasie" in den Mittelpunkt gestellt
wurden. Ein weiteres Beispiel für einen veränderten Umgang
mit der Geschichte der "Euthanasie"-Verbrechen ist an der
Berliner Tiergartenstraße 4 festzumachen. Dort erinnert die
Bundesrepublik Deutschland seit 2014 mit dem Gedenk- und
Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen
"Euthanasie"-Morde an die etwa 300.000 Patienten aus Heil-
und Pflegeanstalten sowie »rassisch« und sozial unerwünschte
Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus im
Deutschen Reich und im besetzten Europa als "lebensunwert"
getötet wurden.
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Vertiefende Informationen |
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