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Erinnerungskultur
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Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. (Jean Baudrillard)
Schweigen und Verdrängen nach 1945 und später Beginn der Gedenk- und Erinnerungsarbeit |
Das Schweigen in meiner Familie - Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses Als ich 2003 den Namen meiner Tante Anna Lehnkering per Zufall auf einer Liste von Opfern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen im Internet fand, war das ein Schock. Bis dahin hatte man Annas Schicksal in meiner Familie verschwiegen und verdrängt - typisch für das Verhalten in vielen Familien. Heute weiß ich, dass dieses Schweigen Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses von Verdrängen, Vertuschen und Verleugnen der Verbrechen war. Politik, Verwaltung, Justiz, Kirche, Verbände und viele andere beteiligte Institutionen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat man sich gegen das Aufarbeiten der Vergangenheit und die Übernahme von Verantwortung gesperrt. Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene haben als historische Erfahrung in der deutschen Gesellschaft noch lange nach 1945 nachgewirkt. Das Stigma der "Erbminderwertigkeit" hinterließ Spuren. Die Scham blieb und verhinderte in vielen Familien eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Erschwerend kam hinzu, dass die Ermordeten, die Überlebenden und ihre Familien auch nach Kriegsende weiterhin in beiden deutschen Staaten diskriminiert und stigmatisiert wurden.
Das deutsche Parlament Man kann wohl sagen, dass das deutsche Parlament historische Schuld auf sich geladen hat. Beispielsweise berief es in den 60er Jahren Werner Villinger, ehemaliger T4-Gutachter und Befürworter von Zwangssterilisation, als Gutachter des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestages. Villinger wendete sich gegen eine finanzielle Entschädigung "seiner" Opfer und sprach zynisch von einer "Entschädigungsneurose". Das führte dazu, dass die Opfer der NS-Zwangssterilisation nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Unfassbar - Werner Villinger erhielt sogar das Große Bundesverdienstkreuz. In diesen Kontext gehört, dass der Deutsche Bundestag das Erbgesundheitsgesetz erst 2007 zu einem NS-Unrechtsgesetz erklärt hat, unvereinbar mit dem Grundgesetz. Am 27. Januar 2011, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, stimmten zwar alle Parteien einem Antrag zu Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu. Doch das Plenum war fast leer und wieder einmal wurde die historische Chance vertan, die Opfer als rassisch Verfolgte anzuerkennen. So sind sie bis heute (Stand 2011) den anderen NS-Verfolgten nicht gleichgestellt. Es ist allerhöchste Zeit, das zu ändern, bevor die letzten direkt Betroffenen gestorben sind.
Erfreulicherweise hat die Forderung nach Würdigung der "Euthanasie"-Opfer - so wie auf anderen gesellschaftlichen Feldern - auch in der Politik zunehmend Gehör gefunden. Das vielleicht augenfälligste Beispiel für einen veränderten Umgang mit der Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ist an der Berliner Tiergartenstraße 4 festzumachen. Ein Höhepunkt auf dem Weg zu einem würdigen Gedenken für die Opfer der NS- „Euthanasie“ war zweifellos die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27.1.2017, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Zum ersten Mal standen die Opfer von "Euthanasie" und Zwangsterilisation im Mittelpunkt der alljährlichen Gedenkstunde. Und auch die längst überfällige Anerkennung der Opfer von Zwangssterilisation und "Euthanasie" als Verfolgte des Nationalsozialismus wurde im Januar 2025 einstimmig im Deutschen Bundestag beschlossen. In diesen Kontext gehört auch die erst 2018 erfolgte Legalisierung der Namensnennung von Opfern der "Euthanasie".
mehr » Nachdem man sich jahrzehntelang auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen die Übernahme von Verantwortung gesperrt hatte, zeugen inzwischen viele Beispiele von einer positiven Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur. Dazu gehört unter anderem die verdienstvolle Arbeit in den Gedenkstätten, die Übernahme der historischen Verantwortung durch die deutsche Ärzteschaft und andere gesellschaftliche Institutionen.
mehr » Nach Jahrzehnten des Schweigens, das häufig mit Scham behaftet war, nimmt die Anzahl der Familienangehörigen, die ihre Familiengeschichten bzw. die Lebensgeschichten ihrer ermordeten Familienmitglieder recherchieren und darüber berichten, erfreulicherweise stetig zu.
mehr » Gedenken im digitalen Raum - künstlerische und inklusive Ansätze Ausdruck und Formen des Gedenkens sind vielfältig. So gehören Denkmäler, Mahnmale, Rituale wie Kranzniederlegungen seit Jahrhunderten zur deutschen Gedenkkultur. Doch in einer Welt globaler Vernetzung beeinflussen die digitalen Medien zunehmend unser Verständnis von der Vergangenheit und schaffen neue Formen des Erinnerns. Das Gedenken im digitalen Raum hat nicht zuletzt durch die Corona Pandemie bedingt stark zugenommen. Auch gibt es erfreulicherweise immer mehr Projekte, die einen inklusiven Ansatz verfolgen - zum Beispiel Bildungsangebote in Leichter Sprache. Nicht zu vergessen sind die vielfältigen und kreativen künstlerischen Gedenkformate - Theaterprojekte, Filme, Malerei und vieles mehr.
mehr » Doch was wären all diese Erinnerungs- und Gedenkaktivitäten ohne bürgerschaftliches Engagement? "Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern." Stellvertretend für die zahlreichen Erinnerungsaktivitäten, die es ohne das Engagement einzelner Menschen nicht gäbe, seien hier einige Berliner Initiativen genannt, die mich nachhaltig beeindruckt haben.
mehr » Erinnern heißt Gedenken, aber auch Informieren und Lernen. Erinnern kann uns Maß und Orientierung geben und bei der Gestaltung einer Gesellschaft helfen, die Respekt hat vor dem menschlichen Leben in all seiner Verschiedenheit und Unvollkommenheit, einer Gesellschaft, die auf Toleranz gründet und in der die Achtung der Menschenwürde selbstverständlich ist. |
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