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 Erinnerungskultur

Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. (Jean Baudrillard)

Blick aus dem Untergeschoss der Topographie des Terrors

(c) Foto S. Falkenstein

Auf dass kein Gras über die Geschichte wachse ...


Auf dieser Seite

Schweigen und Verdrängen nach 1945

Das Schweigen in meiner Familie - Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses

Als ich 2003 den Namen meiner Tante Anna Lehnkering per Zufall auf einer Liste von Opfern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen im Internet fand, war das ein Schock. Bis dahin hatte man Annas Schicksal in meiner Familie verschwiegen. Heute weiß ich, dass dieses Schweigen Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses von Verdrängen, Vertuschen und Verleugnen der Verbrechen war. Politik, Verwaltung, Justiz, Kirche, Verbände und viele andere beteiligte Institutionen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat man sich gegen das Aufarbeiten der Vergangenheit und die Übernahme von Verantwortung gesperrt.

Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene haben als historische Erfahrung in der deutschen Gesellschaft noch lange nach 1945 nachgewirkt. Das Stigma der "Erbminderwertigkeit" hinterließ Spuren. Die Scham blieb und verhinderte in vielen Familien eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Erschwerend kam hinzu, dass die Ermordeten, die Überlebenden und ihre Familien auch nach Kriegsende weiterhin in beiden deutschen Staaten diskriminiert und stigmatisiert wurden.

In den Anfangsjahren nach dem Krieg gab es zwar Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch nur ein Bruchteil von ihnen wurde vor Gericht gestellt und nur wenige wurden verurteilt. Viele setzten ihre Karrieren fort. Ein typisches Beispiel ist der Werdegang von Annas Mörder Horst Schumann. Nach dem Krieg praktizierte er zunächst als Arzt. Als er nach zwischenzeitlicher Flucht in den siebziger Jahren vor Gericht gestellt wurde, geriet der Prozess zum Justizskandal. Kollegen bescheinigten dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten, dass er wegen seines Bluthochdrucks verhandlungsunfähig sei. Der Prozess wurde eingestellt. Bis zu seinem Tod 1983 lebte Schumann mehr als zehn Jahre unbehelligt.

Wichtige und aufschlussreiche Dokumentationen wie "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" von Alice Ricciardi-von Platen, Medizin ohne Menschlichkeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke oder "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945" von Gerhard Schmidt fanden erst viele Jahre später Beachtung.

Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah insgesamt äußerst stockend und völlig unzureichend. (siehe Euthanasie-Prozesse – Wikipedia) Kein Wunder also, dass ein Teufelskreis von Schweigen, Verdrängen und Tabuisieren entstand, der ein angemessenes Gedenken für die vielen hunderttausend Opfer von "Euthanasie" und Zwangssterilisation jahrzehntelang verhinderte.

Es gab rühmliche Ausnahmen. So hat beispielsweise der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer schon früh versucht, das "Schweigekartell" zu durchbrechen. Doch die von ihm in den 60er Jahren begonnenen Ermittlungen gegen mutmaßliche Schreibtischtäter der "Euthanasie" wurden eingestellt. Sein vorbildliches Wirken wurde erst viele Jahre später gewürdigt.

Auch die großartige Pionierarbeit von Ernst Klee war eminent wichtig. Er begann in den 70er Jahren mit der Aufarbeitung der Medizinverbrechen und sein Buch »Euthanasie« im Dritten Reich: Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« ist bis heute Standardwerk zur NS-"Euthanasie". Ohne die Recherchen und persönliche Unterstützung von Ernst Klee hätte ich den Weg meiner Tante Anna von der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in die Gaskammer von Grafeneck nicht so genau nachverfolgen können.

 

Später Beginn der Gedenk- und Erinnerungsarbeit

Die intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Medizinverbrechender begann auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern erst in den 80er Jahren. Damals wurde der Arbeitskreis Erforschung der NS „Euthanasie“ und Zwangssterilisation gegründet. Mitglieder des AK sind heute Angehörige, Pflegekräfte, Ärzte, Theologen, Historiker, Juristen, Gedenkstättenmitarbeiter, Pädagogen, Psychologen und viele mehr.

Der 1987 gegründete Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten hat sich ebenfalls um die Erinnerung an die Opfer und vor allem um die politische Aufarbeitung der Verbrechen verdient gemacht.

Ein anderes Beispiel von vielen für die Anfänge der Gedenk- und Erinnerungsarbeit auf dem Feld der NS-Euthanasie ist das Engagement der Westberliner Geschichtswerkstatt und die Initiative von Götz Aly, denen es zu verdanken ist, dass in den 80er Jahren ein erster Ort des Gedenkens an der Tiergartenstraße 4 entstehen konnte.

 

Das deutsche Parlament

Man kann wohl sagen, dass das deutsche Parlament historische Schuld auf sich geladen hat. Beispielsweise berief es in den 60er Jahren Werner Villinger, ehemaliger T4-Gutachter und Befürworter von Zwangssterilisation, als Gutachter des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestages. Villinger wendete sich gegen eine finanzielle Entschädigung "seiner" Opfer und sprach zynisch von einer "Entschädigungsneurose". Das führte dazu, dass die Opfer der NS-Zwangssterilisation nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Unfassbar - Werner Villinger erhielt sogar das Große Bundesverdienstkreuz.

In diesen Kontext gehört, dass der Deutsche Bundestag das Erbgesundheitsgesetz erst 2007 zu einem NS-Unrechtsgesetz erklärt hat, unvereinbar mit dem Grundgesetz.

Am 27. Januar 2011, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, stimmten zwar alle Parteien einem Antrag zu Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu. Doch das Plenum war fast leer und wieder einmal wurde die historische Chance vertan, die Opfer als rassisch Verfolgte anzuerkennen. So sind sie bis heute den anderen NS-Verfolgten nicht gleichgestellt. Es ist allerhöchste Zeit, das zu ändern, bevor die letzten direkt Betroffenen gestorben sind.

Mehr dazu weiter unten ...

Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur

Gedenkstätten an den Orten der sechs T4-Tötungsanstalten

Nachdem man sich jahrzehntelang auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen die Übernahme von Verantwortung gesperrt hatte, weisen nicht nur die Bemühungen rund um die Namensnennung (siehe unten) auf eine Veränderung der deutschen Erinnerungskultur hin. Nach meinem Eindruck hat sich die Wahrnehmung der "Euthanasie"-Verbrechen im öffentlichen und politischen Bewusstsein in den letzten Jahren deutlich zum Positiven verändert - ein Wandel, der sich in den Medien, in zahllosen Aktivitäten auf regionaler und lokaler Ebene, in Gedenkveranstaltungen oder Ausstellungen widerspiegelt. Auch das stetig wachsende Interesse an der Arbeit der Gedenkstätten, in denen eine vielfältige und dankenswerte Erinnerungsarbeit vor Ort und digital geleistet wird, zeugt davon.

Die Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern

Die Recherchen der Angehörigen sind oft mühsam. Dass Anna heute einen festen Platz im Familiengedächtnis hat, war unter anderem möglich, weil ich ihren Namen auf einer nach deutschem Recht illegalen Liste gefunden habe. Archivregelungen haben die öffentliche Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern lange verhindert. Mit Bezug auf Datenschutzrichtlinien wurde argumentiert, man müsse auf die schutzwürdigen Belange Dritter - gemeint waren die heute lebenden Angehörigen - Rücksicht nehmen. Sie könnten sich stigmatisiert fühlen - eine aus meiner Sicht empörende Argumentation, die direkt an rassenhygienisches Denken anknüpfte.

2018 gab es eine wegweisende Änderung. Seitdem ermöglicht das Bundesarchiv eine personenbezogene Suche in einer Online-Datenbank, die auf den Namen von etwa 30.000 Opfern der "Aktion T4" basiert. Zwar nur ein Bruchteil, aber immerhin ein Anfang! Mit der Nennung der Namen wurde eine unheilvolle Kontinuität durchbrochen. Es war ein bedeutender Schritt, um die Opfer in das familiäre und kollektive Gedächtnis zurückzuholen und zugleich ein Beitrag zur Entstigmatisierung von Menschen, die heute von Behinderung oder psychischer Erkrankung betroffen sind. Es bleibt zu hoffen, dass andere Archive und Institutionen – soweit noch nicht geschehen - dieser Praxis folgen werden.
- siehe Namensnennung

 

Gedenken im digitalen Raum - künstlerische und inklusive Ansätze

Ausdruck und Formen des Gedenkens sind vielfältig. So gehören Denkmäler, Mahnmale, Rituale wie Kranzniederlegungen seit Jahrhunderten zur deutschen Gedenkkultur. Doch in einer Welt globaler Vernetzung beeinflussen die digitalen Medien zunehmend unser Verständnis von der Vergangenheit und schaffen neue Formen des Erinnerns. Das Gedenken im digitalen Raum hat nicht zuletzt durch die Corona Pandemie bedingt stark zugenommen. Auch gibt es erfreulicherweise immer mehr Projekte, die einen inklusiven Ansatz verfolgen.

Meines Wissens war das seit 2011 existierende virtuelle Informations- und Gedenkportal www.gedenkort-t4.eu eine der ersten Internetseiten, die nicht nur umfangreiche geschichtliche Fakten zum Thema der nationalsozialistischen "Euthanasie" präsentiert, sondern Brücken zu Themen der Gegenwart und Zukunft schlägt. Bis heute erreicht dieses Internetangebot deutschland- und europaweit viele Menschen.

Hier einige Projekte und Initiativen, die teilweise eng mit Gedenkort-T4.eu verbunden sind, und für die Vielfalt und Inklusion nicht leere Worthülsen sind:

Bildungsangebote in Leichter Sprache

Bevor 2015 mein Buch "Annas Spuren" als Kurzfassung in einfacher Sprache erschien, hatte ich wenig oder kaum Ahnung von dem Konzept der Leichten oder Einfachen Sprache. Inzwischen bin ich zutiefst davon überzeugt. Das Buch ist für Menschen gedacht, denen aus unterschiedlichsten Gründen das Lesen schwer fällt. Ein Teil der Leserschaft ist wie Anna geistig behindert. Sie alle haben ein Recht darauf zu erfahren, was in der Vergangenheit passiert ist. Kurz nach Erscheinen des Buches schrieben mir Schüler*innen einer Schule für Menschen mit einer geistigen Behinderung: "Wir fanden das Buch gut, spannend und auch traurig. Wir können froh sein, dass alle Menschen, auch die mit einer Behinderung, heute ihr Leben leben können und nicht mehr verfolgt werden. Das darf nicht wieder passieren. Wir sind alle Menschen." Eine Rückmeldung, die mich sehr gerührt hat! Besser kann man es nicht ausdrücken.

In allen Gedenkstätten an den Orten der sechs T4-Tötungszentren gibt es inzwischen analoge und digitale Bildungs- und Vermittlungsangebote für behinderte Menschen. Dazu gehören Führungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten ("Guides"), Publikationen in Leichter Sprache, in Gebärdensprache oder in Brailleschrift. Es sind Projekte, die ohne die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen gar nicht denkbar wären.

Theater gegen das Vergessen

"Ja, ich behaupte darum, dass das Theater eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht." (H. v. Hentig: Bildung. Ein Essay, 1996, Beltz Verl.)

 

Die Anzahl von Theaterprojekten, die das Thema der NS-"Euthanasie" aufgreifen, hat auch dank des Wettbewerbs "andersartig gedenken on stage" stetig zugenommen. Hier einige Beispiele:

  • andersartig gedenken on stage Der bundesweite Wettbewerb für Schul- und Jugendtheater zu Biographien der Opfer der NS-"Euthanasie"-Verbrechen wurde zum ersten Mal 2015 ausgeschrieben. Seitdem fördert er die persönliche Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen von Opfern und baut Brücken zwischen dem Leben der heutigen jungen Generation und der Vergangenheit. Das Projekt unterstützt ausdrücklich Kooperationen zwischen schulischen oder außerschulischen Theatergruppen und Gruppen, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten. Es war mir eine Ehre, den Wettbewerb zweimal als Mitglied der Jury zu begleiten. Ein ganz besonderer Dank an Stana Schenck!

  • Eine ganz persönliche Bedeutung hat für mich das Kinder- und Jugendtheater mini-art, dessen Spielstätte sich auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik Bedburg-Hau befindet. Das Team setzt sich bereits seit vielen Jahren mit der NS-"Euthanasie" auseinander und hat verschiedene Projekte mit Jugendlichen und zwei Theaterstücke entwickelt. 2012 wurde dort zum ersten Mal das Theaterstück Ännes letzte Reise inszeniert. Es basiert auf dem Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering, die 1940 von Bedburg-Hau aus ihre letzte Reise in die Gaskammer von Grafeneck antrat. Heilendes Theater (mini-art.de)

  • Anlässlich der Gedenkveranstaltung an der Tiergartenstraße 4 am 2. September 2022 spielte das inklusive Ensemble des Vereins Theater in der Tonne e.V. Reutlingen das berührende Theaterstück Hierbleiben, Spuren nach Grafeneck. Mit dieser ungewöhnlichen und künstlerisch vielfältigen Form des Straßentheaters erreicht das Ensemble die Menschen unmittelbar vor Ort und schlägt eine eindrucksvolle Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

  • Mehr als zwanzig Jahre nach der Uraufführung in Italien fand Anfang 2023 in Berlin die deutsche Erstaufführung des Theaterstücks T4. OPHELIAS GARTEN von Pietro Floridia statt. 
    siehe Psychiatrienetz: Floridia: Ophelias Garten

  • Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte wurde am 23. Februar 2023 vom Staatstheater Augsburg uraufgeführt. "Mit »Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte« kommt ein berührender und aufrüttelnder Theatertext zur Uraufführung. Im Zentrum der Handlung stehen sieben unangepasste Frauen, die in der NS-Zeit den sogenannten »Krankenmorden« zum Opfer fielen. Aus verschiedenen Perspektiven werden ihre Biografien beleuchtet, Mechanismen von Macht und Gewalt offengelegt, aber auch Widerständigkeit und Selbstermächtigung thematisiert. Vor gespenstischer Kulisse, anschaulich erzählt und ineinanderfließend inszeniert, spielt das Ensemble gegen das Vergessen an." (Quelle: Staatstheater Augsburg)

    Das Theaterstück basiert auf dem Text von  Tine Rahel Völcker "Frauen der Unterwelt". Anlässlich der Gedenkveranstaltung am 1. September 2023 am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde in der Tiergartenstraße 4 las Tine Rahel Völcker Auszüge aus ihrem Text. Eine sehr berührende Lesung, vor allem an diesem für unsere Erinnnerungskultur so besonderen Ort!

  • Sie rufen außerhalb der Sprechzeiten an - Ein Psychical Das musikalische Theaterstück mit und von Miriam Schwan, Johannes Still und Carola Söllner wurde im November 2022 im Brandenburger Theater in Brandenburg an der Havel uraufgeführt. Es thematisiert psychische Störungen aus der Sicht von Betroffenen und "möchte dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, Menschen zu informieren und die Welt ein bisschen offener zu machen". Auch die Lebensgeschichte meiner Tante Anna ist Teil des Stückes, was für mich natürlich eine ganz besondere Bedeutung hat. Das Stück war für den Deutschen Musical Theaterpreis 2023 in zwei Kategorien nominiert: Beste Liedtexte: Miriam Schwan & Carola Söllner Beste Darstellerin in einer Hauptrolle: Miriam Schwan
    Am 9. Oktober 2023 wurde das Stück im Berliner Theater des Westens mit dem Deutschen Musical Theater Preis für die besten Liedtexte ausgezeichnet!!!

Spielfilme und filmische Dokumentationen  

Es gibt eine Vielzahl filmischer Dokumentationen, in denen es um die Themen NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisation geht - ein schwieriger Stoff, der meines Wissens bisher nur in wenigen Spielfilmen behandelt wurde.

Bürgerschaftliches Engagement

"Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern."

Der entscheidende Anstoß für viele Erinnerungs- und Gedenkaktivitäten geht von bürgerschaftlichem Engagement aus und ist das Verdienst lokaler Initiativen und einzelner Menschen. Auch ich habe erfahren, welch große Bedeutung bürgerschaftlichem Engagement zukommt. Annas Geschichte und meine Spurensuche haben mich eng mit der Tiergartenstraße 4 verbunden. Der ehemalige Standort der "T4"-Villa auf dem Vorplatz der Berliner Philharmonie war lange Zeit ein Symbol für das Schweigen, die gesellschaftliche und politische Ignoranz im Umgang mit den Opfern. Das wollte ich nicht hinnehmen!

Die daraus folgende Teilnahme am Runden Tisch zur Umgestaltung der Tiergartenstraße 4 war für mich in vielerlei Hinsicht eine prägende Erfahrung. Ich habe nicht nur beeindruckende Menschen getroffen, die sich weit über ihr berufliches Engagement hinaus für ein gemeinsames Ziel eingesetzt haben. Ich habe zudem gelernt, dass man als einzelner Mensch etwas bewegen und verändern kann. Man muss sich vor allem mit anderen Menschen zusammentun und Netzwerke bilden. Zum Erreichen der Ziele braucht man natürlich auch Personen in verantwortlichen Positionen, sei es in der Politik, in den Medien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen.

  • 2007 kam es zur Gründung eines Runden Tisches zur Umgestaltung der Tiergartenstraße 4, an dem engagierte Einzelpersonen und Vertreter/innen verschiedener Institutionen zusammenkamen. Wir initiierten verschiedene temporäre Projekte, um den historischen Ort "Tiergartenstraße 4" sichtbar zu machen. Dank einer breiten Unterstützung aus der Zivilgesellschaft kam es dann 2014 zur Eröffnung des Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an der Tiergartenstraße. 

  • Ein großartiges Vorbild für bürgerschaftliches Engagement sind die unzähligen Stolperstein Gruppen, deren Arbeit unter dem Motto "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist" steht. 

  • Das Projekt Zeit- und Zweitzeugen ist der verdienstvollen Erinnerungsarbeit von Barbara Keimer und Gerd Kuhlke aus Herten zu verdanken. Sie treffen seit den 90er Jahren Zeit- und Zweitzeug*innen aus verschiedenen verfolgten Menschengruppen und zeichnen die Gespräche und Interviews filmisch auf. Da die Stimmen von Zeitzeugen*innen leider nach und nach verstummen, ist es wichtig, ihre Geschichten weiterzutragen. Die mediale Aufbereitung der Vergangenheit spielt in dem Zusammenhang eine bedeutende Rolle.

    Es war mir eine Freude, Barbara und Gerd 2017 im Rahmen ihres Projektes zu begegnen.
    - Film Zeit- und Zweitzeugen (Interview mit S. Falkenstein, Film von Gerd Kuhlke u. Barbara Keimer)

    Topographie des Terrors Berlin

    Blick in einen Seminarraum der Topographie d. Terrors

    Fotoausschnitt aus dem Film Zeit- und Zweitzeugen (G. Kuhlke)

Stellvertretend für die zahlreichen Erinnerungsaktivitäten, die es ohne das Engagement einzelner Menschen nicht gäbe, seien hier einige Berliner Initiativen genannt, die mich nachhaltig beeindruckt haben:

Die deutsche Ärzteschaft und Verantwortung

Die deutsche Ärzteschaft hat sich erst spät der eigenen Verantwortung gestellt. Seit einigen Jahren setzen sich Kliniken und andere an den Verbrechen beteiligte Institutionen jedoch zunehmend mit ihrer Geschichte auseinander. Ein Ergebnis der veränderten Haltung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin initiierte Ausstellung, die seit 2010 in vielen Orten zu sehen war.

Ein weiterer Meilenstein war der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der 2010 erstmals der Erinnerung an die Opfer und der Verantwortung der psychiatrischen Fachgesellschaft gewidmet wurde. Der Psychiater Professor Frank Schneider benannte als damaliger Präsident der DGPPN erstmals offiziell die Verantwortung der Täter, drückte Scham und Trauer aus und bat die Opfer und ihre Familien um Verzeihung für das Leid und Unrecht, das ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie angetan wurde. In seine Bitte um Verzeihung schloss er ausdrücklich das lange Schweigen, Verharmlosen und Verdrängen der deutschen Psychiatrie in der Zeit danach ein. Ich konnte als Angehörige an Anna und ihr Schicksal erinnern.

 

Politische Meilensteine auf dem Weg der Erinnerung

In der Politik hat die Forderung nach Würdigung der "Euthanasie"-Opfer zunehmend Gehör gefunden. Das vielleicht augenfälligste Beispiel für einen veränderten Umgang mit der Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ist an der Berliner Tiergartenstraße 4 festzumachen.

  • 2013 erinnerte das Land Berlin mit zahlreichen Aktivitäten im Rahmen des Themenjahres "Zerstörte Vielfalt" an Menschen, die vor der Nazi-Diktatur die Vielfalt der Stadt geprägt und ausgemacht hatten. Im Rahmen des Themenjahres wurde die Ausstellung Tiergartenstraße 4 - Geschichte eines schwierigen Ortes auf dem Vorplatz der Berliner Philharmonie gezeigt, die auch das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering dokumentierte.

  • Am 2. September 2014 - fast auf den Tag genau 75 Jahre nach Hitlers "Euthanasie"-Erlass - wurde der zentrale Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an der Berliner Tiergartenstraße 4 der Öffentlichkeit übergeben. Ein wichtiger Schritt auf einem langen Weg!
    - Reden anlässlich der Eröffnung

    - mehr zur Erinnerungsarbeit in Bezug auf die "Aktion T4"

  • Ein weiterer Höhepunkt auf dem Weg zu einem würdigen Gedenken für die Opfer der NS- „Euthanasie“ war zweifellos die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27.1.2017, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Zum ersten Mal standen die Opfer von "Euthanasie" und Zwangsterilisation im Mittelpunkt der alljährlichen Gedenkstunde.

    Ein historisches Ereignis! Für mich außerdem unvergesslich, weil ich an diesem für unsere Geschichte so bedeutsamen Ort mit zwei anderen Rednern stellvertretend für die vielen namenlosen Opfer an Anna erinnern durfte. Sie alle waren Menschen, die lachten und weinten, fröhlich oder traurig waren, sie alle hatten unverwechselbare Persönlichkeiten. An diesem Tag wurde ihnen wenigstens symbolisch etwas von ihrer Identität und Würde zurückgegeben - sozusagen als Akt später Gerechtigkeit. 

    - Rede von S. Falkenstein (Text-PDF)       Video

    Deutscher Bundestag, 27. Januar 2017  
  • Der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen von 2021 sendet ein positives Signal. Dort heißt es unter der Überschrift Erinnerungskultur: "Wir begreifen Erinnerungskultur als Einsatz für die Demokratie und Weg in eine gemeinsame Zukunft. Wir schützen unsere Gedenkstätten. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes werden wir unter Einbezug des Deutschen Bundestages, der SED-Opferbeauftragten und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie im Zusammenwirken mit den in diesen Bereichen Aktiven aktualisieren und die Gedenkstättenarbeit auskömmlich finanzieren. Lokale Initiativen wollen wir fördern und Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen digital zugänglich machen. ... Das Förderprogramm „Jugend erinnert“ wird verstetigt und modernisiert. ... Wir wollen die Opfer der „Euthanasiemorde“ und Zwangssterilisation offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen."

  • Am 26. September 2022 fand eine öffentliche Anhörung im Deutschen Bundestag statt. Einziger Tagesordnungspunkt der 14. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien war ein Antrag von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE
    Es wurde übereinstimmend dafür votiert, die Opfer der sogenannten „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen während der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 als NS-Opfer anzuerkennen, ihre Schicksale verstärkt ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und in der historischen Aufarbeitung zu berücksichtigen. Nach der Anhörung war ich verhalten optimistisch, doch Zweifel blieben. So schrieb ich an dieser Stelle:
    Wir werden die Politiker und Politikerinnen an ihren Taten messen!!
    Im März 2024 erfuhr ich zu meiner großen Bestürzung, dass der Ausschuss für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag mit Datum vom 24.11.2023 die Ablehnung des Antrags empfohlen hat (mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD, BÜNDNIS 90 GRÜNE; die AFD enthielt sich der Stimme). - Beschlussempfehlung

    In einer Presseerklärung des Vereins zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. heißt es zu der Beschlussempfehlung: "... 79 Jahre nach Ende der NS Diktatur ignoriert die Ausschussmehrheit für Kultur und Medien die eindeutigen Ausführungen der Sachverständigen und macht sie damit zu einer Farce, degradiert und entwertet sie den tausendfachen Tod der Opfer. 79 Jahre nach Ende der NS Diktatur legt die Ausschussmehrheit Zeugnis ab von weiterhin fehlender menschlicher Sensibilität, fehlendem moralischen Anstand, führt das Unrecht und die Diskriminierung der Opfer der Euthanasie aus der NS Zeit quasi fort. Die Opfer sind tot. Verfolgt und ermordet von skrupellosen Massenmördern des NS Regimes. Deren Angehörige sollen die unzumutbare politische Beschlussempfehlung vom 24.11.2023 hinnehmen von Personen, denen es an Sachverstand fehlt; eine Beschlussempfehlung, die skrupellos und zutiefst amoralisch ist. ...Wer heute öffentlich das Schild vor sich herträgt „Nie wieder ist jetzt“, der ist verpflichtet, diesem Bekenntnis auch Taten folgen zu lassen und damit die Massenmorde an Kranken und Behinderten als das anzuerkennen, was sie sind: Morde, die aufgrund einer gezielten Verfolgung durch das NS Regime an wehrlosen und arglosen Menschen begangen wurden."

    Dieser Erklärung kann ich mich nur voll und ganz anschließen!!! Weitere Informationen werden folgen. Und ja - wir werden die Politiker und Politikerinnen an ihren Taten messen!!

Erinnern, Gedenken, Informieren, Lernen

Erinnern heißt Gedenken, aber auch Informieren und Lernen. Erinnern kann uns Maß und Orientierung geben und bei der Gestaltung einer Gesellschaft helfen, die Respekt hat vor dem menschlichen Leben in all seiner Verschiedenheit und Unvollkommenheit, einer Gesellschaft, die auf Toleranz gründet und in der die Achtung der Menschenwürde selbstverständlich ist.

Ich hatte die große Ehre, die Bildhauerin und Autorin Dorothea Buck (1917 - 2019) kennen zu lernen. Von ihr, die selbst als "erbminderwertig" abgestempelt und zwangssterilisiert wurde, stammt der Satz: "Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern."

Im Verlauf meiner Spurensuche und Erinnerungsarbeit habe ich öfters gehört: "Was sollen die alten Geschichten! Lass doch die Vergangenheit ruhen!" Dem kann ich nur aus tiefster Überzeugung entgegnen: Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, an die Menschen zu erinnern, die unvorstellbar gelitten haben. Es ist richtig - niemand wird dadurch lebendig, aber indem man an die einzelnen Menschen und ihre Lebensgeschichten erinnert, indem man ihnen Namen und Gesicht zurückgibt, erweist man ihnen Respekt und Ehre, die ihnen so lange verweigert wurden.

Der Prozess der Erinnerung beinhaltet jedoch mehr als Gedenken an die Opfer. Wir können, ja, wir müssen aus der Geschichte lernen. Das ist umso dringender erforderlich in Zeiten, in denen menschenverachtende Ideologien von Rechtspopulisten zunehmend an Boden gewinnen.

Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen - im Namen der Wissenschaft, von der Mehrheit der Bevölkerung geduldet - waren Ausdruck einer bis zum Letzten getriebenen Radikalisierung und Pervertierung weit verbreiteter Einstellungen und Haltungen gegenüber den "Andersartigen". Wer glaubt, dass solche Haltungen heute keine Rolle mehr spielen, der irrt. Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung, mit Schwäche und Alter, nicht zuletzt mit psychischen Erkrankungen steht nach wie vor auf der Tagesordnung und stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Die enormen Fortschritte in der modernen Medizin und die damit verbundenen bioethischen Debatten machen die Definition allgemein verbindlicher, ethischer und rechtlicher Normen nötig. Es ist manchmal nicht einfach eindeutig Position zu beziehen, zwischen Gut und Böse, zwischen Segen und Fluch der modernen wissenschaftlichen Errungenschaften zu unterscheiden. Bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe kann das historische Gedächtnis Hilfestellung leisten.

Der Blick auf die Vergangenheit zeigt, was passieren kann, wenn eine Gesellschaft Menschen nur nach ihrem "Wert" oder "Unwert" bemisst. Sicher müssen wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass ein Mensch, der geistig, körperlich oder psychisch krank ist, in einer Anstalt, in der das Töten systematisch vollzogen wird, ermordet wird. Doch je leistungsorientierter eine Gesellschaft ist, umso größer ist die Gefahr, dass so genannte Randgruppen als wirtschaftliche Belastung angesehen und von einer angemessenen Teilhabe an der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Es ist wichtig, Denkstrukturen zu erkennen, die bis heute latent vorhanden sind, und die den Umgang mit Abweichung oder "Andersartigkeit" in Teilen der Gesellschaft bis in die Gegenwart bestimmen. Indem wir die Mechanismen durchschauen, die in der Vergangenheit zu einer derartigen Perversion menschlicher Moral und Handelns geführt haben, können wir hoffentlich rechtzeitig Alarmzeichen erkennen und Wiederholungsgefahren entgegenwirken.

In diesem Zusammenhang sollten uns die unsäglichen Thesen zur Inklusion in Schulen alarmieren, die im Sommer 2023 von dem rechtsextremen AfD Politiker Björn Höcke öffentlich vertreten wurden. Siehe auch: "Das Bekenntnis zur Inklusion ist die umfassendste Antwort auf den Nationalsozialismus"

Seit Beginn meiner persönlichen Spurensuche war und ist es mir ein Anliegen als "Zweitzeugin", möglichst viele - vor allem junge - Menschen zu erreichen. Wenn ich Annas Geschichte in Schulklassen erzähle, geht es mir nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger zu mahnen. Die Jugendlichen sind nicht verantwortlich für die Geschehnisse der Vergangenheit. Aber sie tragen - wie wir alle - Verantwortung für das, was heute und morgen geschieht. Es sind Einzelschicksale wie das von Anna, die abstraktes historisches Geschehen begreifbar machen, im besten Fall die Herzen der Menschen berühren und dadurch etwas in den Köpfen bewegen können. Annas Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, genau hinzusehen, hinzuhören, zu widersprechen und falls nötig zu handeln, wenn einzelne Menschen oder Gruppen nach ihrer Nützlichkeit, ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert bemessen werden. Menschenrechte sind nicht selbstverständlich, sondern man muss sich dafür einsetzen. Bei meinen Begegnungen mit jungen Menschen bin ich in der Regel auf reges Interesse gestoßen und habe den Eindruck gewonnen, dass Annas Botschaft sie erreicht. Das macht mir Hoffnung!

Wir alle bestimmen mit unserem Handeln darüber mit, in was für einer Gesellschaft wir heute und morgen leben.

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