Website © S. Falkenstein
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Erinnerungskultur Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. (Jean Baudrillard)
Auf dass kein Gras über die Geschichte wachse ... |
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Das Schweigen in meiner Familie - Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses Als ich 2003 den Namen meiner Tante Anna Lehnkering per Zufall auf einer Liste von Opfern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen im Internet fand, war das ein Schock. Bis dahin hatte man Annas Schicksal in meiner Familie verschwiegen. Heute weiß ich, dass dieses Schweigen Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses von Verdrängen, Vertuschen und Verleugnen der Verbrechen war. Politik, Verwaltung, Justiz, Kirche, Verbände und viele andere beteiligte Institutionen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat man sich gegen das Aufarbeiten der Vergangenheit und die Übernahme von Verantwortung gesperrt. Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene haben als historische Erfahrung in der deutschen Gesellschaft noch lange nach 1945 nachgewirkt. Das Stigma der "Erbminderwertigkeit" hinterließ Spuren. Die Scham blieb und verhinderte in vielen Familien eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Erschwerend kam hinzu, dass die Ermordeten, die Überlebenden und ihre Familien auch nach Kriegsende weiterhin in beiden deutschen Staaten diskriminiert und stigmatisiert wurden. In den Anfangsjahren nach dem Krieg gab es zwar Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch nur ein Bruchteil von ihnen wurde vor Gericht gestellt und nur wenige wurden verurteilt. Viele setzten ihre Karrieren fort. Ein typisches Beispiel ist der Werdegang von Annas Mörder Horst Schumann. Nach dem Krieg praktizierte er zunächst als Arzt. Als er nach zwischenzeitlicher Flucht in den siebziger Jahren vor Gericht gestellt wurde, geriet der Prozess zum Justizskandal. Kollegen bescheinigten dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten, dass er wegen seines Bluthochdrucks verhandlungsunfähig sei. Der Prozess wurde eingestellt. Bis zu seinem Tod 1983 lebte Schumann mehr als zehn Jahre unbehelligt. Wichtige und aufschlussreiche Dokumentationen wie "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" von Alice Ricciardi-von Platen, Medizin ohne Menschlichkeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke oder "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945" von Gerhard Schmidt fanden erst viele Jahre später Beachtung. Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah insgesamt äußerst stockend und völlig unzureichend. (siehe Euthanasie-Prozesse – Wikipedia) Kein Wunder also, dass ein Teufelskreis von Schweigen, Verdrängen und Tabuisieren entstand, der ein angemessenes Gedenken für die vielen hunderttausend Opfer von "Euthanasie" und Zwangssterilisation jahrzehntelang verhinderte. Es gab rühmliche Ausnahmen. So hat beispielsweise der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer schon früh versucht, das "Schweigekartell" zu durchbrechen. Doch die von ihm in den 60er Jahren begonnenen Ermittlungen gegen mutmaßliche Schreibtischtäter der "Euthanasie" wurden eingestellt. Sein vorbildliches Wirken wurde erst viele Jahre später gewürdigt. Auch die großartige Pionierarbeit von Ernst Klee war eminent wichtig. Er begann in den 70er Jahren mit der Aufarbeitung der Medizinverbrechen und sein Buch »Euthanasie« im Dritten Reich: Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« ist bis heute Standardwerk zur NS-"Euthanasie". Ohne die Recherchen und persönliche Unterstützung von Ernst Klee hätte ich den Weg meiner Tante Anna von der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in die Gaskammer von Grafeneck nicht so genau nachverfolgen können.
Später Beginn der Gedenk- und Erinnerungsarbeit Die intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Medizinverbrechender begann auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern erst in den 80er Jahren. Damals wurde der Arbeitskreis Erforschung der NS „Euthanasie“ und Zwangssterilisation gegründet. Mitglieder des AK sind heute Angehörige, Pflegekräfte, Ärzte, Theologen, Historiker, Juristen, Gedenkstättenmitarbeiter, Pädagogen, Psychologen und viele mehr. Der 1987 gegründete Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten hat sich ebenfalls um die Erinnerung an die Opfer und vor allem um die politische Aufarbeitung der Verbrechen verdient gemacht. Ein anderes Beispiel von vielen für die Anfänge der Gedenk- und Erinnerungsarbeit auf dem Feld der NS-Euthanasie ist das Engagement der Westberliner Geschichtswerkstatt und die Initiative von Götz Aly, denen es zu verdanken ist, dass in den 80er Jahren ein erster Ort des Gedenkens an der Tiergartenstraße 4 entstehen konnte.
Man kann wohl sagen, dass das deutsche Parlament historische Schuld auf sich geladen hat. Beispielsweise berief es in den 60er Jahren Werner Villinger, ehemaliger T4-Gutachter und Befürworter von Zwangssterilisation, als Gutachter des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestages. Villinger wendete sich gegen eine finanzielle Entschädigung "seiner" Opfer und sprach zynisch von einer "Entschädigungsneurose". Das führte dazu, dass die Opfer der NS-Zwangssterilisation nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Unfassbar - Werner Villinger erhielt sogar das Große Bundesverdienstkreuz. In diesen Kontext gehört, dass der Deutsche Bundestag das Erbgesundheitsgesetz erst 2007 zu einem NS-Unrechtsgesetz erklärt hat, unvereinbar mit dem Grundgesetz. Am 27. Januar 2011, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, stimmten zwar alle Parteien einem Antrag zu Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu. Doch das Plenum war fast leer und wieder einmal wurde die historische Chance vertan, die Opfer als rassisch Verfolgte anzuerkennen. So sind sie bis heute den anderen NS-Verfolgten nicht gleichgestellt. Es ist allerhöchste Zeit, das zu ändern, bevor die letzten direkt Betroffenen gestorben sind. |
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Gedenkstätten an den Orten der sechs T4-Tötungsanstalten Nachdem man sich jahrzehntelang auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen die Übernahme von Verantwortung gesperrt hatte, weisen nicht nur die Bemühungen rund um die Namensnennung (siehe unten) auf eine Veränderung der deutschen Erinnerungskultur hin. Nach meinem Eindruck hat sich die Wahrnehmung der "Euthanasie"-Verbrechen im öffentlichen und politischen Bewusstsein in den letzten Jahren deutlich zum Positiven verändert - ein Wandel, der sich in den Medien, in zahllosen Aktivitäten auf regionaler und lokaler Ebene, in Gedenkveranstaltungen oder Ausstellungen widerspiegelt. Auch das stetig wachsende Interesse an der Arbeit der Gedenkstätten, in denen eine vielfältige und dankenswerte Erinnerungsarbeit vor Ort und digital geleistet wird, zeugt davon.
Die Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern Die Recherchen der Angehörigen sind oft mühsam. Dass Anna heute einen festen Platz im Familiengedächtnis hat, war unter anderem möglich, weil ich ihren Namen auf einer nach deutschem Recht illegalen Liste gefunden habe. Archivregelungen haben die öffentliche Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern lange verhindert. Mit Bezug auf Datenschutzrichtlinien wurde argumentiert, man müsse auf die schutzwürdigen Belange Dritter - gemeint waren die heute lebenden Angehörigen - Rücksicht nehmen. Sie könnten sich stigmatisiert fühlen - eine aus meiner Sicht empörende Argumentation, die direkt an rassenhygienisches Denken anknüpfte.
2018 gab es eine wegweisende Änderung.
Seitdem ermöglicht das Bundesarchiv eine personenbezogene Suche in
einer Online-Datenbank, die auf den Namen von etwa 30.000 Opfern der
"Aktion T4" basiert. Zwar nur ein Bruchteil, aber immerhin ein
Anfang! Mit der Nennung der Namen wurde eine unheilvolle Kontinuität
durchbrochen. Es war ein bedeutender Schritt, um die Opfer in das
familiäre und kollektive Gedächtnis zurückzuholen und zugleich ein
Beitrag zur Entstigmatisierung von Menschen, die heute von
Behinderung oder psychischer Erkrankung betroffen sind. Es bleibt zu
hoffen, dass andere Archive und Institutionen – soweit noch nicht
geschehen - dieser Praxis folgen werden.
Gedenken im digitalen Raum - künstlerische und inklusive Ansätze Ausdruck und Formen des Gedenkens sind vielfältig. So gehören Denkmäler, Mahnmale, Rituale wie Kranzniederlegungen seit Jahrhunderten zur deutschen Gedenkkultur. Doch in einer Welt globaler Vernetzung beeinflussen die digitalen Medien zunehmend unser Verständnis von der Vergangenheit und schaffen neue Formen des Erinnerns. Das Gedenken im digitalen Raum hat nicht zuletzt durch die Corona Pandemie bedingt stark zugenommen. Auch gibt es erfreulicherweise immer mehr Projekte, die einen inklusiven Ansatz verfolgen. Meines Wissens war das seit 2011 existierende virtuelle Informations- und Gedenkportal www.gedenkort-t4.eu eine der ersten Internetseiten, die nicht nur umfangreiche geschichtliche Fakten zum Thema der nationalsozialistischen "Euthanasie" präsentiert, sondern Brücken zu Themen der Gegenwart und Zukunft schlägt. Bis heute erreicht dieses Internetangebot deutschland- und europaweit viele Menschen. Hier einige Projekte und Initiativen, die teilweise eng mit Gedenkort-T4.eu verbunden sind, und für die Vielfalt und Inklusion nicht leere Worthülsen sind:
Bildungsangebote in Leichter Sprache Bevor 2015 mein Buch "Annas Spuren" als Kurzfassung in einfacher Sprache erschien, hatte ich wenig oder kaum Ahnung von dem Konzept der Leichten oder Einfachen Sprache. Inzwischen bin ich zutiefst davon überzeugt. Das Buch ist für Menschen gedacht, denen aus unterschiedlichsten Gründen das Lesen schwer fällt. Ein Teil der Leserschaft ist wie Anna geistig behindert. Sie alle haben ein Recht darauf zu erfahren, was in der Vergangenheit passiert ist. Kurz nach Erscheinen des Buches schrieben mir Schüler*innen einer Schule für Menschen mit einer geistigen Behinderung: "Wir fanden das Buch gut, spannend und auch traurig. Wir können froh sein, dass alle Menschen, auch die mit einer Behinderung, heute ihr Leben leben können und nicht mehr verfolgt werden. Das darf nicht wieder passieren. Wir sind alle Menschen." Eine Rückmeldung, die mich sehr gerührt hat! Besser kann man es nicht ausdrücken. In allen Gedenkstätten an den Orten der sechs T4-Tötungszentren gibt es inzwischen analoge und digitale Bildungs- und Vermittlungsangebote für behinderte Menschen. Dazu gehören Führungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten ("Guides"), Publikationen in Leichter Sprache, in Gebärdensprache oder in Brailleschrift. Es sind Projekte, die ohne die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen gar nicht denkbar wären.
Die Anzahl von Theaterprojekten, die das Thema der NS-"Euthanasie" aufgreifen, hat auch dank des Wettbewerbs "andersartig gedenken on stage" stetig zugenommen. Hier einige Beispiele:
Spielfilme und filmische Dokumentationen Es gibt eine Vielzahl filmischer Dokumentationen, in denen es um die Themen NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisation geht - ein schwieriger Stoff, der meines Wissens bisher nur in wenigen Spielfilmen behandelt wurde.
"Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern." Der entscheidende Anstoß für viele Erinnerungs- und Gedenkaktivitäten geht von bürgerschaftlichem Engagement aus und ist das Verdienst lokaler Initiativen und einzelner Menschen. Auch ich habe erfahren, welch große Bedeutung bürgerschaftlichem Engagement zukommt. Annas Geschichte und meine Spurensuche haben mich eng mit der Tiergartenstraße 4 verbunden. Der ehemalige Standort der "T4"-Villa auf dem Vorplatz der Berliner Philharmonie war lange Zeit ein Symbol für das Schweigen, die gesellschaftliche und politische Ignoranz im Umgang mit den Opfern. Das wollte ich nicht hinnehmen! Die daraus folgende Teilnahme am Runden Tisch zur Umgestaltung der Tiergartenstraße 4 war für mich in vielerlei Hinsicht eine prägende Erfahrung. Ich habe nicht nur beeindruckende Menschen getroffen, die sich weit über ihr berufliches Engagement hinaus für ein gemeinsames Ziel eingesetzt haben. Ich habe zudem gelernt, dass man als einzelner Mensch etwas bewegen und verändern kann. Man muss sich vor allem mit anderen Menschen zusammentun und Netzwerke bilden. Zum Erreichen der Ziele braucht man natürlich auch Personen in verantwortlichen Positionen, sei es in der Politik, in den Medien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Stellvertretend für die zahlreichen Erinnerungsaktivitäten, die es ohne das Engagement einzelner Menschen nicht gäbe, seien hier einige Berliner Initiativen genannt, die mich nachhaltig beeindruckt haben:
Die deutsche Ärzteschaft und Verantwortung Die deutsche Ärzteschaft hat sich erst spät der eigenen Verantwortung gestellt. Seit einigen Jahren setzen sich Kliniken und andere an den Verbrechen beteiligte Institutionen jedoch zunehmend mit ihrer Geschichte auseinander. Ein Ergebnis der veränderten Haltung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin initiierte Ausstellung, die seit 2010 in vielen Orten zu sehen war. Ein weiterer Meilenstein war der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der 2010 erstmals der Erinnerung an die Opfer und der Verantwortung der psychiatrischen Fachgesellschaft gewidmet wurde. Der Psychiater Professor Frank Schneider benannte als damaliger Präsident der DGPPN erstmals offiziell die Verantwortung der Täter, drückte Scham und Trauer aus und bat die Opfer und ihre Familien um Verzeihung für das Leid und Unrecht, das ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie angetan wurde. In seine Bitte um Verzeihung schloss er ausdrücklich das lange Schweigen, Verharmlosen und Verdrängen der deutschen Psychiatrie in der Zeit danach ein. Ich konnte als Angehörige an Anna und ihr Schicksal erinnern.
Politische Meilensteine auf dem Weg der Erinnerung In der Politik hat die Forderung nach Würdigung der "Euthanasie"-Opfer zunehmend Gehör gefunden. Das vielleicht augenfälligste Beispiel für einen veränderten Umgang mit der Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ist an der Berliner Tiergartenstraße 4 festzumachen.
Rückblick: Wenige Monate zuvor war
ein ähnlicher Antrag zum Thema, der von der Fraktion DIE
LINKE eingebracht worden war, an parteipolitischem
Geplänkel gescheitert. |
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Erinnern, Gedenken, Informieren, Lernen | |||||
Erinnern heißt Gedenken, aber auch Informieren und Lernen. Erinnern kann uns Maß und Orientierung geben und bei der Gestaltung einer Gesellschaft helfen, die Respekt hat vor dem menschlichen Leben in all seiner Verschiedenheit und Unvollkommenheit, einer Gesellschaft, die auf Toleranz gründet und in der die Achtung der Menschenwürde selbstverständlich ist. Ich hatte die große Ehre, die Bildhauerin und Autorin Dorothea Buck (1917 - 2019) kennen zu lernen. Von ihr, die selbst als "erbminderwertig" abgestempelt und zwangssterilisiert wurde, stammt der Satz: "Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern." Im Verlauf meiner Spurensuche und Erinnerungsarbeit habe ich öfters gehört: "Was sollen die alten Geschichten! Lass doch die Vergangenheit ruhen!" Dem kann ich nur aus tiefster Überzeugung entgegnen: Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, an die Menschen zu erinnern, die unvorstellbar gelitten haben. Es ist richtig - niemand wird dadurch lebendig, aber indem man an die einzelnen Menschen und ihre Lebensgeschichten erinnert, indem man ihnen Namen und Gesicht zurückgibt, erweist man ihnen Respekt und Ehre, die ihnen so lange verweigert wurden. Der Prozess der Erinnerung beinhaltet jedoch mehr als Gedenken an die Opfer. Wir können, ja, wir müssen aus der Geschichte lernen. Das ist umso dringender erforderlich in Zeiten, in denen menschenverachtende Ideologien von Rechtspopulisten zunehmend an Boden gewinnen. Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen - im Namen der Wissenschaft, von der Mehrheit der Bevölkerung geduldet - waren Ausdruck einer bis zum Letzten getriebenen Radikalisierung und Pervertierung weit verbreiteter Einstellungen und Haltungen gegenüber den "Andersartigen". Wer glaubt, dass solche Haltungen heute keine Rolle mehr spielen, der irrt. Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung, mit Schwäche und Alter, nicht zuletzt mit psychischen Erkrankungen steht nach wie vor auf der Tagesordnung und stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Die enormen Fortschritte in der modernen Medizin und die damit verbundenen bioethischen Debatten machen die Definition allgemein verbindlicher, ethischer und rechtlicher Normen nötig. Es ist manchmal nicht einfach eindeutig Position zu beziehen, zwischen Gut und Böse, zwischen Segen und Fluch der modernen wissenschaftlichen Errungenschaften zu unterscheiden. Bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe kann das historische Gedächtnis Hilfestellung leisten. Der Blick auf die Vergangenheit zeigt, was passieren kann, wenn eine Gesellschaft Menschen nur nach ihrem "Wert" oder "Unwert" bemisst. Sicher müssen wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass ein Mensch, der geistig, körperlich oder psychisch krank ist, in einer Anstalt, in der das Töten systematisch vollzogen wird, ermordet wird. Doch je leistungsorientierter eine Gesellschaft ist, umso größer ist die Gefahr, dass so genannte Randgruppen als wirtschaftliche Belastung angesehen und von einer angemessenen Teilhabe an der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Es ist wichtig, Denkstrukturen zu erkennen, die bis heute latent vorhanden sind, und die den Umgang mit Abweichung oder "Andersartigkeit" in Teilen der Gesellschaft bis in die Gegenwart bestimmen. Indem wir die Mechanismen durchschauen, die in der Vergangenheit zu einer derartigen Perversion menschlicher Moral und Handelns geführt haben, können wir hoffentlich rechtzeitig Alarmzeichen erkennen und Wiederholungsgefahren entgegenwirken. In diesem Zusammenhang sollten uns die unsäglichen Thesen zur Inklusion in Schulen alarmieren, die im Sommer 2023 von dem rechtsextremen AfD Politiker Björn Höcke öffentlich vertreten wurden. Siehe auch: "Das Bekenntnis zur Inklusion ist die umfassendste Antwort auf den Nationalsozialismus" Seit Beginn meiner persönlichen Spurensuche war und ist es mir ein Anliegen als "Zweitzeugin", möglichst viele - vor allem junge - Menschen zu erreichen. Wenn ich Annas Geschichte in Schulklassen erzähle, geht es mir nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger zu mahnen. Die Jugendlichen sind nicht verantwortlich für die Geschehnisse der Vergangenheit. Aber sie tragen - wie wir alle - Verantwortung für das, was heute und morgen geschieht. Es sind Einzelschicksale wie das von Anna, die abstraktes historisches Geschehen begreifbar machen, im besten Fall die Herzen der Menschen berühren und dadurch etwas in den Köpfen bewegen können. Annas Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, genau hinzusehen, hinzuhören, zu widersprechen und falls nötig zu handeln, wenn einzelne Menschen oder Gruppen nach ihrer Nützlichkeit, ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert bemessen werden. Menschenrechte sind nicht selbstverständlich, sondern man muss sich dafür einsetzen. Bei meinen Begegnungen mit jungen Menschen bin ich in der Regel auf reges Interesse gestoßen und habe den Eindruck gewonnen, dass Annas Botschaft sie erreicht. Das macht mir Hoffnung! Wir alle bestimmen mit unserem Handeln darüber mit, in was für einer Gesellschaft wir heute und morgen leben. |
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