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Deutsche Politik
Die Würde des Menschen ist unantastbar! (c) Foto S. Falkenstein, 2024 |
Das deutsche Parlament Man kann wohl sagen, dass das deutsche Parlament historische Schuld auf sich geladen hat. Beispielsweise berief es in den 60er Jahren Werner Villinger, ehemaliger T4-Gutachter und Befürworter von Zwangssterilisation, als Gutachter des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestages. Villinger wendete sich gegen eine finanzielle Entschädigung "seiner" Opfer und sprach zynisch von einer "Entschädigungsneurose". Das führte dazu, dass die Opfer der NS-Zwangssterilisation nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fielen. Unfassbar - Werner Villinger erhielt sogar das Große Bundesverdienstkreuz. In diesen Kontext gehört, dass der Deutsche Bundestag das Erbgesundheitsgesetz erst 2007 zu einem NS-Unrechtsgesetz erklärt hat, unvereinbar mit dem Grundgesetz. Am 27. Januar 2011, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, stimmten zwar alle Parteien einem Antrag zu Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu. Doch das Plenum war fast leer und wieder einmal wurde die historische Chance vertan, die Opfer als rassisch Verfolgte anzuerkennen. So sind sie bis heute den anderen NS-Verfolgten nicht gleichgestellt. Es ist allerhöchste Zeit, das zu ändern, bevor die letzten direkt Betroffenen gestorben sind. (Die lange überfällige Anerkennung erfolgte erst 2025 - 80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges - statt!
Politische Meilensteine auf dem Weg der Erinnerung In der Politik hat die Forderung nach Würdigung der "Euthanasie"-Opfer zunehmend Gehör gefunden. Das vielleicht augenfälligste Beispiel für einen veränderten Umgang mit der Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ist an der Berliner Tiergartenstraße 4 festzumachen. 2013 erinnerte das Land Berlin mit zahlreichen Aktivitäten im Rahmen des Themenjahres "Zerstörte Vielfalt" an Menschen, die vor der Nazi-Diktatur die Vielfalt der Stadt geprägt und ausgemacht hatten. Im Rahmen des Themenjahres wurde die Ausstellung Tiergartenstraße 4 - Geschichte eines schwierigen Ortes auf dem Vorplatz der Berliner Philharmonie gezeigt, die auch das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering dokumentierte.
Am 2. September 2014 - fast auf den
Tag genau 75 Jahre nach Hitlers "Euthanasie"-Erlass - wurde der
zentrale Gedenk- und Informationsort für die Opfer der
nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an der Berliner
Tiergartenstraße 4 der Öffentlichkeit übergeben. Ein wichtiger
Schritt auf einem langen Weg! - mehr zur Erinnerungsarbeit in Bezug auf die "Aktion T4" Ein weiterer Höhepunkt auf dem Weg zu einem würdigen Gedenken für die Opfer der NS- „Euthanasie“ war zweifellos die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag am 27.1.2017, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Zum ersten Mal standen die Opfer von "Euthanasie" und Zwangsterilisation im Mittelpunkt der alljährlichen Gedenkstunde. Ein historisches Ereignis! Für mich außerdem unvergesslich, weil ich an diesem für unsere Geschichte so bedeutsamen Ort mit zwei anderen Rednern stellvertretend für die vielen namenlosen Opfer an Anna erinnern durfte. Sie alle waren Menschen, die lachten und weinten, fröhlich oder traurig waren, sie alle hatten unverwechselbare Persönlichkeiten. An diesem Tag wurde ihnen wenigstens symbolisch etwas von ihrer Identität und Würde zurückgegeben - sozusagen als Akt später Gerechtigkeit. - Rede von S. Falkenstein (Text-PDF) Video
Der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen von 2021 sendet ein positives Signal. Dort heißt es unter der Überschrift Erinnerungskultur: "Wir begreifen Erinnerungskultur als Einsatz für die Demokratie und Weg in eine gemeinsame Zukunft. Wir schützen unsere Gedenkstätten. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes werden wir unter Einbezug des Deutschen Bundestages, der SED-Opferbeauftragten und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie im Zusammenwirken mit den in diesen Bereichen Aktiven aktualisieren und die Gedenkstättenarbeit auskömmlich finanzieren. Lokale Initiativen wollen wir fördern und Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen digital zugänglich machen. ... Das Förderprogramm „Jugend erinnert“ wird verstetigt und modernisiert. ... Wir wollen die Opfer der „Euthanasiemorde“ und Zwangssterilisation offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen." Anerkennung der Opfer der "Euthanasie"-Morde und Zwangssterilisationen als Verfolgte des NS-Regimes Deutscher Bundestag - Aufarbeitung von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen / 27.6.24 Am 27. Juni 2024 war es endlich soweit. Im deutschen Parlament wurde ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen sowie FDP debattiert und an den Ausschuss für Kultur und Medien zur weiteren Beratung überwiesen. Antrag 2011945.pdf (bundestag.de) Aus dem Antrag:
Am 3. Juli wurde der Antrag vom Kulturausschuss gebilligt und zur abschließenden Beratung und Beschlussfassung an das Parlament überwiesen. Der Antrag sollte am 7. November 2024 im Deutschen Bundestag abschließend beraten und abgestimmt werden. Eine Verkettung unglücklicher Umstände (Zusammenbruch der Ampelkoalition) führte dazu, dass die Tagesordnung kurzfristig geändert wurde und die Abstimmung nicht stattfinden konnte. Wann und ob der Antrag in nächster Zeit auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist zurzeit noch unklar.
Eine gute Nachricht! Nachdem das Ende der Regierungskoalition am 7. November 2024 dazu geführt hatte, dass der Antrag zur NS-"Euthanasie" von der Tagesordnung des Bundestages gestrichen worden war, wurde er nach verschiedenen Verschiebungen am 29. Januar 2025 beraten und abgestimmt. Website des Bundestages mit den Reden Der Beschluss wurde einstimmig angenommen!!! Ein längst überfälliger Schritt! Natürlich kommt die Anerkennung für die Opfer viel zu spät. Aber es ist wenigstens eine symbolische Würdigung, die auch den betroffenen Familien etwas bedeutet. Was die Umsetzung des Bundestagsbeschlusses angeht, so zeigt die Erfahrung, dass es lange dauern kann, bis auf Absichtserklärungen Taten folgen. Doch ein wichtiger Schritt ist damit getan! Und ja - wir werden die Politiker und Politikerinnen beim Wort nehmen und letztendlich an ihren Taten messen!!! Ich hoffe sehr, dass die wissenschaftliche Arbeit - wie im Antrag vorgesehen - weiter vorankommen wird, und dass die Gedenkstätten, die eine so wichtige Arbeit leisten, in Zukunft noch stärker unterstützt werden. Anna und Friedel waren nur zwei von unzähligen Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus ausgrenzt, entwürdigt und am Ende als „lebensunwert“ vernichtet wurden. Lasst uns an sie denken – nicht nur am 29. Januar 2025!
Die Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern Die Recherchen der Angehörigen sind oft mühsam. Dass Anna heute einen festen Platz im Familiengedächtnis hat, war unter anderem möglich, weil ich ihren Namen auf einer nach deutschem Recht illegalen Liste gefunden habe. Archivregelungen haben die öffentliche Nennung der Namen von "Euthanasie"-Opfern lange verhindert. Mit Bezug auf Datenschutzrichtlinien wurde argumentiert, man müsse auf die schutzwürdigen Belange Dritter - gemeint waren die heute lebenden Angehörigen - Rücksicht nehmen. Sie könnten sich stigmatisiert fühlen - eine aus meiner Sicht empörende Argumentation, die direkt an rassenhygienisches Denken anknüpfte.
2018 gab es eine wegweisende Änderung.
Seitdem ermöglicht das Bundesarchiv eine personenbezogene Suche in
einer Online-Datenbank, die auf den Namen von etwa 30.000 Opfern der
"Aktion T4" basiert. Zwar nur ein Bruchteil, aber immerhin ein
Anfang! Mit der Nennung der Namen wurde eine unheilvolle Kontinuität
durchbrochen. Es war ein bedeutender Schritt, um die Opfer in das
familiäre und kollektive Gedächtnis zurückzuholen und zugleich ein
Beitrag zur Entstigmatisierung von Menschen, die heute von
Behinderung oder psychischer Erkrankung betroffen sind. Es bleibt zu
hoffen, dass andere Archive und Institutionen – soweit noch nicht
geschehen - dieser Praxis folgen werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Namen von Opfern zu recherchieren. |