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Schweigen - Verdrängen - Erinnerung- Verantwortung
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Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur Übernahme von Verantwortung In den Anfangsjahren nach dem Krieg gab es zwar Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch nur ein Bruchteil von ihnen wurde vor Gericht gestellt und nur wenige wurden verurteilt. Viele setzten ihre Karrieren fort. Ein typisches Beispiel ist der Werdegang von Annas Mörder Horst Schumann. Nach dem Krieg praktizierte er zunächst als Arzt. Als er nach zwischenzeitlicher Flucht in den siebziger Jahren vor Gericht gestellt wurde, geriet der Prozess zum Justizskandal. Kollegen bescheinigten dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten, dass er wegen seines Bluthochdrucks verhandlungsunfähig sei. Der Prozess wurde eingestellt. Bis zu seinem Tod 1983 lebte Schumann mehr als zehn Jahre unbehelligt. Wichtige und aufschlussreiche Dokumentationen wie "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" von Alice Ricciardi-von Platen, Medizin ohne Menschlichkeit von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke oder "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945" von Gerhard Schmidt fanden erst viele Jahre später Beachtung. Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah insgesamt äußerst stockend und völlig unzureichend. (siehe Euthanasie-Prozesse – Wikipedia) Kein Wunder also, dass ein Teufelskreis von Schweigen, Verdrängen und Tabuisieren entstand, der ein angemessenes Gedenken für die vielen hunderttausend Opfer von "Euthanasie" und Zwangssterilisation jahrzehntelang verhinderte. Es gab rühmliche Ausnahmen. So hat beispielsweise der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer schon früh versucht, das "Schweigekartell" zu durchbrechen. Doch die von ihm in den 60er Jahren begonnenen Ermittlungen gegen mutmaßliche Schreibtischtäter der "Euthanasie" wurden eingestellt. Sein vorbildliches Wirken wurde erst viele Jahre später gewürdigt. Auch die großartige Pionierarbeit von Ernst Klee war eminent wichtig. Er begann in den 70er Jahren mit der Aufarbeitung der Medizinverbrechen und sein Buch »Euthanasie« im Dritten Reich: Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« ist bis heute Standardwerk zur NS-"Euthanasie". Ohne die Recherchen und persönliche Unterstützung von Ernst Klee hätte ich den Weg meiner Tante Anna von der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in die Gaskammer von Grafeneck nicht so genau nachverfolgen können. Später Beginn der Gedenk- und Erinnerungsarbeit Die intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Medizinverbrechender begann auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern erst in den 80er Jahren. Damals wurde der Arbeitskreis Erforschung der NS „Euthanasie“ und Zwangssterilisation gegründet. Mitglieder des AK sind heute Angehörige, Pflegekräfte, Ärzte, Theologen, Historiker, Juristen, Gedenkstättenmitarbeiter, Pädagogen, Psychologen und viele mehr. Der 1987 gegründete Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten hat sich ebenfalls um die Erinnerung an die Opfer und vor allem um die politische Aufarbeitung der Verbrechen verdient gemacht. Ein anderes Beispiel von vielen für die Anfänge der Gedenk- und Erinnerungsarbeit auf dem Feld der NS-Euthanasie ist das Engagement der Westberliner Geschichtswerkstatt und die Initiative von Götz Aly, denen es zu verdanken ist, dass in den 80er Jahren ein erster Ort des Gedenkens an der Tiergartenstraße 4 entstehen konnte.
Gedenkstätten an den Orten der sechs T4-Tötungsanstalten Nachdem man sich jahrzehntelang auf allen gesellschaftlichen Ebenen gegen die Übernahme von Verantwortung gesperrt hatte, weisen nicht nur die Bemühungen rund um die Namensnennung (siehe unten) auf eine Veränderung der deutschen Erinnerungskultur hin. Nach meinem Eindruck hat sich die Wahrnehmung der "Euthanasie"-Verbrechen im öffentlichen und politischen Bewusstsein in den letzten Jahren deutlich zum Positiven verändert - ein Wandel, der sich in den Medien, in zahllosen Aktivitäten auf regionaler und lokaler Ebene, in Gedenkveranstaltungen oder Ausstellungen widerspiegelt. Auch das stetig wachsende Interesse an der Arbeit der Gedenkstätten, in denen eine vielfältige und dankenswerte Erinnerungsarbeit vor Ort und digital geleistet wird, zeugt davon.
Die deutsche Ärzteschaft und Verantwortung Die deutsche Ärzteschaft hat sich erst spät der eigenen Verantwortung gestellt. Seit einigen Jahren setzen sich Kliniken und andere an den Verbrechen beteiligte Institutionen jedoch zunehmend mit ihrer Geschichte auseinander. Ein Ergebnis der veränderten Haltung ist die von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin initiierte Ausstellung, die seit 2010 in vielen Orten zu sehen war.
Ein weiterer Meilenstein war der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der 2010 erstmals der Erinnerung an die Opfer und der Verantwortung der psychiatrischen Fachgesellschaft gewidmet wurde. Der Psychiater Professor Frank Schneider benannte als damaliger Präsident der DGPPN erstmals offiziell die Verantwortung der Täter, drückte Scham und Trauer aus und bat die Opfer und ihre Familien um Verzeihung für das Leid und Unrecht, das ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie angetan wurde. In seine Bitte um Verzeihung schloss er ausdrücklich das lange Schweigen, Verharmlosen und Verdrängen der deutschen Psychiatrie in der Zeit danach ein. Ich konnte als Angehörige an Anna und ihr Schicksal erinnern.
Juristen und Juristinnen und ihre Verantwortung "80 Jahre danach wollen wir die Spuren dieser dunklen Geschichte nicht überdecken und an das Schicksal der Verfolgten und Ermordeten erinnern." 80 Jahre danach – Abgeordnetenhaus Berlin Im April 1941 fand im heutigen Berliner Abgeordnetenhaus, „Haus der Flieger“ genannt, eine Konferenz statt, die beispielhaft für die Mitwirkung der Justiz an den nationalsozialistischen Verbrechen steht. Im April 2021 luden das Abgeordnetenhaus von Berlin und die Stiftung Topographie des Terrors zu einer Veranstaltung ein. - siehe YouTube Video Gedenkveranstaltung – 80 Jahre danach Am Ende der Aufzeichnung geht es um Anna und meine Erinnerungsarbeit - hier der Ausschnitt mit dem Gespräch über Anna.
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