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Lernen aus der Vergangenheit
Für meine Enkelkinder ... |
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Erinnern, Gedenken, Informieren, Lernen |
Erinnern heißt Gedenken, aber auch Informieren und Lernen. Erinnern kann uns Maß und Orientierung geben und bei der Gestaltung einer Gesellschaft helfen, die Respekt hat vor dem menschlichen Leben in all seiner Verschiedenheit und Unvollkommenheit, einer Gesellschaft, die auf Toleranz gründet und in der die Achtung der Menschenwürde selbstverständlich ist. Ich hatte die große Ehre, die Bildhauerin und Autorin Dorothea Buck (1917 - 2019) kennen zu lernen. Von ihr, die selbst als "erbminderwertig" abgestempelt und zwangssterilisiert wurde, stammt der Satz: "Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern." Im Verlauf meiner Spurensuche und Erinnerungsarbeit habe ich öfters gehört: "Was sollen die alten Geschichten! Lass doch die Vergangenheit ruhen!" Dem kann ich nur aus tiefster Überzeugung entgegnen: Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, an die Menschen zu erinnern, die unvorstellbar gelitten haben. Es ist richtig - niemand wird dadurch lebendig, aber indem man an die einzelnen Menschen und ihre Lebensgeschichten erinnert, indem man ihnen Namen und Gesicht zurückgibt, erweist man ihnen Respekt und Ehre, die ihnen so lange verweigert wurden. Der Prozess der Erinnerung beinhaltet jedoch mehr als Gedenken an die Opfer. Wir können, ja, wir müssen aus der Geschichte lernen. Das ist umso dringender erforderlich in Zeiten, in denen menschenverachtende Ideologien von Rechtspopulisten zunehmend an Boden gewinnen. Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen - im Namen der Wissenschaft, von der Mehrheit der Bevölkerung geduldet - waren Ausdruck einer bis zum Letzten getriebenen Radikalisierung und Pervertierung weit verbreiteter Einstellungen und Haltungen gegenüber den "Andersartigen". Wer glaubt, dass solche Haltungen heute keine Rolle mehr spielen, der irrt. Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung, mit Schwäche und Alter, nicht zuletzt mit psychischen Erkrankungen steht nach wie vor auf der Tagesordnung und stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Die enormen Fortschritte in der modernen Medizin und die damit verbundenen bioethischen Debatten machen die Definition allgemein verbindlicher, ethischer und rechtlicher Normen nötig. Es ist manchmal nicht einfach eindeutig Position zu beziehen, zwischen Gut und Böse, zwischen Segen und Fluch der modernen wissenschaftlichen Errungenschaften zu unterscheiden. Bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe kann das historische Gedächtnis Hilfestellung leisten. Der Blick auf die Vergangenheit zeigt, was passieren kann, wenn eine Gesellschaft Menschen nur nach ihrem "Wert" oder "Unwert" bemisst. Sicher müssen wir heute nicht mehr davon ausgehen, dass ein Mensch, der geistig, körperlich oder psychisch krank ist, in einer Anstalt, in der das Töten systematisch vollzogen wird, ermordet wird. Doch je leistungsorientierter eine Gesellschaft ist, umso größer ist die Gefahr, dass so genannte Randgruppen als wirtschaftliche Belastung angesehen und von einer angemessenen Teilhabe an der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Es ist wichtig, Denkstrukturen zu erkennen, die bis heute latent vorhanden sind, und die den Umgang mit Abweichung oder "Andersartigkeit" in Teilen der Gesellschaft bis in die Gegenwart bestimmen. Indem wir die Mechanismen durchschauen, die in der Vergangenheit zu einer derartigen Perversion menschlicher Moral und Handelns geführt haben, können wir hoffentlich rechtzeitig Alarmzeichen erkennen und Wiederholungsgefahren entgegenwirken. In diesem Zusammenhang sollten uns die unsäglichen Thesen zur Inklusion in Schulen alarmieren, die im Sommer 2023 von dem rechtsextremen AfD Politiker Björn Höcke öffentlich vertreten wurden. Siehe auch: "Das Bekenntnis zur Inklusion ist die umfassendste Antwort auf den Nationalsozialismus" Seit Beginn meiner persönlichen Spurensuche war und ist es mir ein Anliegen als "Zweitzeugin", möglichst viele - vor allem junge - Menschen zu erreichen. Wenn ich Annas Geschichte in Schulklassen erzähle, geht es mir nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger zu mahnen. Die Jugendlichen sind nicht verantwortlich für die Geschehnisse der Vergangenheit. Aber sie tragen - wie wir alle - Verantwortung für das, was heute und morgen geschieht. Es sind Einzelschicksale wie das von Anna, die abstraktes historisches Geschehen begreifbar machen, im besten Fall die Herzen der Menschen berühren und dadurch etwas in den Köpfen bewegen können. Annas Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, genau hinzusehen, hinzuhören, zu widersprechen und falls nötig zu handeln, wenn einzelne Menschen oder Gruppen nach ihrer Nützlichkeit, ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert bemessen werden. Menschenrechte sind nicht selbstverständlich, sondern man muss sich dafür einsetzen. Bei meinen Begegnungen mit jungen Menschen bin ich in der Regel auf reges Interesse gestoßen und habe den Eindruck gewonnen, dass Annas Botschaft sie erreicht. Das macht mir Hoffnung! Wir alle bestimmen mit unserem Handeln darüber mit, in was für einer Gesellschaft wir heute und morgen leben. - Veränderungen in der deutschen Gesellschaft 2024 »
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