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Annas Spuren - Ein Opfer der NS-Euthanasie

Annas Spuren - Ein Opfer der NS-Euthanasie

2012 S. Falkenstein: Annas Spuren

Mitarbeit Prof. Dr. Dr. Frank Schneider

2015 Annas Spuren
in Einfacher Sprache

Wer – wenn nicht wir als Angehörige – könnte glaubwürdiger bezeugen, dass die Opfer keine anonyme Masse waren?! Wer – wenn nicht wir – wäre besser geeignet, ihnen Gesicht und Namen und damit ihre Identität und Würde zurückzugeben?

"Euthanasie" und Zwangssterilisation - Schweigen, Verdrängen und Erinnern in den Familien

Das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering wurde jahrzehntelang in der Familie verschwiegen und verdrängt - typisch für das Verhalten in vielen Familien. Wenn ich Annas Namen nicht zufällig auf einer Liste von Opfern der NS-"Euthanasie" im Internet gefunden hätte, wüsste ich wohl immer noch nicht, dass man sie 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet hat. Heute weiß ich, welch unvorstellbares Unrecht ihr geschehen ist. Das Totschweigen der Vernichtung war Teil des Unrechts.

Ich habe in meiner Familie erlebt, dass Schweigen krankmacht. Die Aufarbeitung der Vergangenheit dagegen kann heilsam sein. Nach Jahrzehnten des Schweigens ist Annas Geschichte heute fest  im Familiengedächtnis verankert. Wir erinnern uns an unsere Tante, Großtante und Urgroßtante. Die jüngste Generation in unserer Familie macht Hoffnung, dass die Erinnerung bleibt!

Foto © S. Falkenstein,
Berlin, 2022

Eine Rose der Erinnerung für Anna

Annas achtjährige Urgroßnichte am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an der Tiergartenstraße 4 in Berlin

Ich hatte im Laufe der Jahre Kontakt zu zahlreichen betroffenen Angehörigen, die meine Erfahrungen teilten. Viele haben das Schweigen in ihren Familien als eine Last empfunden. Doch nach meinem Eindruck begeben sich immer mehr Familienmitglieder der zweiten und dritten Generation auf Spurensuche und arbeiten die Lebensgeschichten ihrer ermordeten Verwandten auf. Nicht selten setzen sie sich damit gegen immer noch existierende Widerstände über die jahrzehntelange Tabuisierung des Themas in ihren Familien und in der Gesellschaft hinweg.

- siehe Schweigen und Verdrängen nach 1945

Der Umgang mit "Euthanasie" und Zwangssterilisation in den betroffenen Familien ist teilweise bis heute geprägt von Unsicherheit (Ist die Krankheit erblich?), von Scham (Leben mit dem Stigma der "erblichen Minderwertigkeit") und Schuld (Warum haben wir unsere Angehörigen nicht geschützt? Warum haben wir geschwiegen?). Ich halte es nicht nur im Interesse der betroffenen Familien sondern in dem unserer gesamten Gesellschaft für äußerst wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es geht uns alle an, denn eigentlich gibt es doch in jeder Familie Mitglieder, die auf die eine oder andere Art und Weise gesundheitliche Schwächen haben oder nicht der Norm entsprechen. Eine Krankheit - ob angeboren oder erworben - ist weder ein Grund zur Scham noch zum Verschweigen. Im Gegenteil - wenn wir viele Geschichten wie die von Anna erzählen, bekämpfen wir damit nicht nur die Diskriminierung der Opfer, sondern setzen zugleich ein Signal gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung derjenigen, die heute von Behinderungen oder psychischen Erkrankungen betroffen sind.

Nach 1945 gab es eine Vielzahl von Ursachen, die der Vergangenheitsbewältigung in den Familien im Weg standen. Unter anderem waren es Archivregelungen und unsägliche Datenschutzbestimmungen, die die Namensnennung von Euthanasieopfern und damit die Aufarbeitung für betroffene Angehörige jahrzehntelang erschwert bzw. verhindert haben.

Das Thema der Namensnennung war für mich von Anfang an bedeutsam, und ich habe mich auf verschiedene Art und Weise darum bemüht, betroffene Angehörige zu erreichen. Dabei spielte das virtuelle Informations- und Gedenkportal www.gedenkort-t4.eu eine wichtige Rolle. Wesentlicher Bestandteil dieser Website ist die Erinnerung an die die Opfer, die durch inzwischen fast 200 Biografien (Std. 2022) wachgehalten wird.

- Interviewreihe mit Angehörigen auf dem Blog von Gedenkort-T4

 

2011 wurde dort mein Aufruf an Angehörige veröffentlicht, in dem ich um ihre Unterstützung bat.

(Ausschnitt) "... diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen! Schweigen und Verdrängen machen krank! Wer – wenn nicht wir als Angehörige – könnte glaubwürdiger bezeugen, dass die Opfer keine anonyme Masse waren?! Wer – wenn nicht wir – wäre besser geeignet, ihnen Gesicht und Namen und damit ihre Identität zurückzugeben? Über das Gedenken hinaus können wir aber auch mit der Erinnerung an ihre Lebensgeschichten die Geschichte unserer Gesellschaft sichtbar machen und auf diese Weise vielleicht dazu beitragen, dass sich Derartiges nie wiederholen möge! ..."

Dieser Textteil wurde übrigens 2017 von dem britischen Schauspieler John Simm anlässlich des Holocaust Memorial Day in englischer Sprache zitiert. Who if not we ...?

 

2013 folgte dann ein erneutes Plädoyer für die Freigabe der Namen von Opfern der NS-„Euthanasie".

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es 2020 nochmal nötig werden würde, mit einem Plädoyer von Angehörigen zur Namensnennung an die Öffentlichkeit zu gehen. (Inzwischen musste das Plädoyer auf der Seite von gedenkort-t4-eu gelöscht werden!!)

In dem Zusammenhang möchte ich auf das 2013 erschienene Buch des Historikers Götz Aly "Die Belasteten" hinweisen. In dieser Gesellschaftsgeschichte legt Aly dar, dass nicht wenige Angehörige den Mord an ihren behinderten Kindern, Geschwistern, Vätern und Müttern als Befreiung von einer Last stillschweigend hinnahmen, und er zeigt auf, welche Spuren das bis heute hinterlassen hat.

- siehe Namensnennung

 

Zunehmende Erinnerungsarbeit von Angehörigen

Nach meinem Wissensstand war der 1997 gegründete Gesprächskreis in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen eine der ersten Gedenk- und Erinnerungsinitiativen, die von Betroffenen und Angehörigen ausging.

- Weitere Infos zum Gedenkkreis Wehnen e.V.

Anna Lehnkering war meine Tante, also eine ganz nahe Angehörige. Ihr Schicksal und das Schweigen danach hat mich im Innersten berührt. Die Erinnerung an sie war und ist mir eine Herzensangelegenheit. Initiativen wie die in Wehnen waren zu Beginn meiner Spurensuche Anfang der 2000er Jahre eine Ausnahme und der Kontakt zu anderen Angehörigen kaum möglich. Erst nachdem ich meine Gedenkseite für Anna im Internet veröffentlicht hatte, kam es zu zahlreichen Kontakten. Es macht mich im Rückblick sehr froh, dass Annas Geschichte und meine Erinnerungsarbeit dazu beigetragen konnten, dass inzwischen viele "vergessene" Opfer Namen und Gesicht zurückerhalten haben.

- siehe Gedenkzeichen für Anna

Anbetracht des langjährigen gesellschaftlichen und familiären Schweigens möchte ich besonders das frühe Engagement von Hans-Ulrich Dapp und Antje Kosemund hervorheben und würdigen. Sie gehörten zu den Ersten, die das Schweigen brachen. Hans-Ulrich Dapp veröffentlichte 1990 das Buch "Emma Z - Ein Opfer der Euthanasie". Darin schildert er den Lebensweg seiner Großmutter, die im Rahmen der "Aktion T4" in der Gaskammer von Grafeneck ermordet wurde. Antje Kosemund begann bereits in den achtziger Jahren Informationen über das Schicksal ihrer Schwester Irma Sperling zu sammeln und zu veröffentlichen. Irma war dreizehn Jahre alt, als sie 1944 in der Wiener Kinderfachabteilung "Am Spiegelgrund" ermordet wurde. 2011 erschien A. Kosemunds Buch "Sperlingskinder: Faschismus und Nachkrieg: Vergessen ist Verweigerung der Erinnerung!"

Inzwischen nimmt die Anzahl der Familienangehörigen stetig zu, die ihre Familiengeschichten bzw. die Lebensgeschichten ihrer ermordeten Familienmitglieder recherchieren und darüber berichten - immer öfter auch in Buchform. Eine der jüngsten Angehörigen ist Julia Gilfert. Sie veröffentlichte 2022 das Buch Himmel voller Schweigen, in dem sie die Geschichte ihres Großvaters Walter Frick erzählt. Walter Frick - ein Name von Hunderttausenden - sein Schicksal macht jenseits von Zahlenkolonnen und Akten abstrakte Geschichte begreifbar. Julias Buch berührt die Herzen und bewegt hoffentlich etwas in den Köpfen.

Hier einige Beispiele von vielen, die zeigen, dass die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen inzwischen stärker in das öffentliche Blickfeld gerückt ist:

  • Am 31. August 2018 fand in der Topographie des Terrors in Berlin eine Veranstaltung zur Situation von Angehörigen psychisch kranker Menschen in der NS-Zeit statt. Hier der Tagungsbericht mit allen Vorträgen zum Download (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.)

  • Am 26. Januar 2021 luden der Förderkreis T4 und die Stiftung Denkmal zu einem Online Gespräch ein. Jürgen Dusel, der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen sprach mit den Angehörigen Daniela Martin, Jörg Waßmer und Julia Gilfert. Flyer  Video

  • Ein Hoffnungsschimmer für die betroffenen Familien ist der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen von 2021, in dem versprochen wird: "Wir wollen die Opfer der „Euthanasiemorde“ und Zwangssterilisation offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen." Wir werden die Politiker und Politikerinnen an ihren Taten messen.

  • Bedingt durch die Pandemie haben Online Gedenken und Dokumentation zugenommen. Ein Beispiel ist die barrierearme Website „Geschichte inklusiv", ein Projekt der Gedenstätte Brandenburg an der Havel, die Anfang 2022 online ging. Die Website ist durchgehend in einfacher Sprache gestaltet und wurde von einem inklusiven Team erarbeitet. Hier wird auch der heutige Umgang mit der Geschichte beleuchtet, unter anderem aus meiner Sicht als Angehörige eines "Euthanasie"-Opfers.

  • 2022 wurde in der Sendung Planet Wissen der sehenswerte Film "Massenmord in Kliniken - Euthanasie im Dritten Reich" ausgestrahlt. Der Film thematisiert die "Euthanasie"-Verbrechen und die "Aktion T4" am Beispiel der Tötungsanstalt Grafeneck. Im Zentrum des Hauptfilms stehen drei Menschen, die in Grafeneck ermordet wurden sowie deren Angehörige: Emma Dapp (1889 - 1940) und ihr Enkel Hans-Ulrich Dapp, Martin Bader (1901- 1940) und sein Sohn Helmut Bader, Dieter Neumaier (1933 - 1940) und sein Bruder Wolfgang Neumeier). weitere Informationen ...
    Der Film wurde erstmals 2015 gezeigt und 2021 überarbeitet. 2015 war ich zusammen mit Thomas Stöckle, dem Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, Gast im Studio. 2022 war ich dann coronabedingt online als Gast zugeschaltet.


Hilfe für Angehörige

Auf folgenden Internetseiten wird Angehörigen Unterstützung angeboten, wenn es um Fragen zur Recherche etc. geht. Leider gibt es in dieser Hinsicht noch zu wenige Angebote.


 

Biografische Arbeit von Angehörigen in Buchform

Die Liste erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Internet, Presse, Film, TV, Radio etc.

Die Anzahl der Veröffentlichungen (auch mit Bezug auf Angehörige) nimmt stetig zu. Die folgende Auflistung ist zufällig und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.



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