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Stolperstein für Anna 2. April 2009 in Mülheim a. d. Ruhr
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"Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen
ist."
Mit seinem
großartigen "Kunstprojekt
für Europa" erinnert Gunter
Demnig seit 1997 (die erste amtlich genehmigte Verlegung
eines Stolpersteins) an die Opfer der NS-Zeit. Das
Projekt Stolpersteine
hält "die Erinnerung an
die 1933 bis 1945 erfolgte Vertreibung und Vernichtung der
Juden, der Zigeuner / Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der
Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im
Nationalsozialismus lebendig". (Foto) Gunter Demnig bei der Verlegung des Stolpersteins für Anna am 2. April 2009 in Saarn
Stolperstein-Verlegung in Mülheim (Ruhr) Saarn, Düsseldorfer Str. 38
Donnerstagmittag, halb zwei - es ist relativ ruhig in der sonst so belebten Düsseldorfer Straße. Vermutlich arbeiten die meisten Saarner oder sitzen noch am Mittagstisch. Einige Passanten bleiben stehen und beobachten, was auf dem Bürgersteig vor dem Haus Nr. 38 passiert. Die Menschen, die dort versammelt sind, schauen auf eine etwa 10 x 10 x 10 Zentimeter große Ausschachtung am Boden. Gunter Demnig, der Mann mit dem auffällig roten Halstuch und dem breitkrempigen Hut, kniet auf dem Pflaster und verlegt einen Betonstein mit goldglänzender Messing-Platte, in die eingraviert ist: Hier wohnte Anna Lehnkering, Jg. 1915, ... ermordet 1940 in ... Grafeneck. Als sich einige "I-Dötzchen" mit Tornistern auf dem Rücken nähern, ist der Bürgersteig von den Umstehenden blockiert. Ein kurzes Zögern - dann bahnt sich eines der Kinder den Weg durch die Ansammlung und fordert die anderen auf, es ihm gleichzutun. Da kommt von einem der Steppkes der Zuruf: „Siehst'e nicht, da is doch ne Beerdigung!“
Eine Woche nach der Steinverlegung, am Karfreitag 2009, schrieb mir ein ehemaliger Mitschüler, der in Saarn lebt: „Ich kann Dir versichern, der Stein blinkt im Sonnenlicht. Denn auf dem Weg heute früh zur Dorfkirche kam ich an ihm vorbei und sah ihn von der Sonne beschienen dort leuchten.“ Ein Freund aus Bedburg-Hau, wichtigster Mitstreiter im Kampf gegen das Vergessen, kommentierte diesen Satz folgendermaßen: "gerade an einem tag wie dem heutigen karfreitag erhält solch ein satz einen großen symbolcharakter. niemand ist tot, an den sich erinnert wird. anders ausgedrückt: jeder lebt, an den sich erinnert wird. ÄNNE LEBT, trotz ihres eigenen karfreitags. oder: wegen ihres karfreitags?" Meine Dankesrede anlässlich der Stolpersteinverlegung Das ist heute ein bewegender Tag für Annas Familie – aber sicher vor allem für meinen Vater, Annas Bruder, der hier zusammen mit ihr seine Jugendjahre verbracht hat. Ich kann nur erahnen, was in ihm vorgeht. Lassen Sie mich dem Namen auf diesem Stein ein Gesicht hinzufügen. (Foto) Das ist Anna, die in der Familie Änne genannt wurde. Das Bild zeigt sie als fröhliches, junges Mädchen nur wenige Jahre, bevor sie Opfer der NS-„Euthanasie“ wurde. Änne war eine von etwa 300 000 kranken und wehrlosen Menschen, die von den Nazis als „minderwertig“ und „lebensunwert“ stigmatisiert wurden und an denen die sogenannte „Euthanasie“, zynisch „Gnadentod“ genannt, vollzogen wurde. Hunderttausendfacher Massenmord an wehrlosen Kranken - der Verstand weigert sich, das zu begreifen. Das war keine anonyme Masse, das waren einzelne Menschen, die gedemütigt, verletzt und am Ende vernichtet wurden. Sie alle hatten – wie Änne – ein Gesicht und einen Namen, doch die Erinnerung daran war jahrzehntelang ausgelöscht. Man hat sich in Deutschland mit der Aufarbeitung der Medizin-Verbrechen schwer getan. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass gerade das Schicksal der psychisch Kranken und der Menschen mit Behinderung erst so spät ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Es gab - und gibt teilweise noch heute - ein geistiges Fundament, auf dem die Rassenideologie der Nazis aufsatteln konnte. Auch nach 1945 wirkten diese weltanschaulichen Grundlagen weiter. Die wenigsten Täter wurden bestraft. Viele setzten ihre Karrieren in „allen Ehren“ fort. Die Erinnerung an die Opfer dagegen wurde verschwiegen und verdrängt. So wurde ihnen noch einmal Unrecht zugefügt. Es heißt: »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Zum Glück gibt es in dieser Stadt Menschen, die das nicht hinnehmen wollen. Es ist dem Arbeitskreis "Stolpersteine" in der Mülheimer „Initiative für Toleranz“ zu verdanken, dass die Opfer seit einigen Jahren aus der Anonymität in das Bewusstsein der Öffentlichkeit treten, dass auch Änne heute durch diesen Stolperstein ihren Namen und damit ein Stück ihrer Persönlichkeit und ihrer Würde zurückerhält. Im Namen meiner Familie danke ich - stellvertretend für alle engagierten Mülheimer Bürgerinnen und Bürger - den hier anwesenden Mitgliedern des „Arbeitskreises Stolpersteine“, der Stifterin von Ännes Stein, sowie Ihnen, Frau aus der Beek (Renate aus der Beek vertrat als Bürgermeisterin der Stadt die Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld). In diesen Dank möchte ich ausdrücklich die beiden Schüler Jan-Niklas Haag und Christopher Somplatzki von der Realschule Mellinghofer Straße einschließen, die sich um die Wartung und den Erhalt des Stolpersteines kümmern wollen, „damit Anna nicht vergessen wird.” Diese aktive Beteiligung an der Erinnerungsarbeit durch die junge Generation stimmt an diesem Tag sehr hoffnungsvoll.
S. Falkenstein, 2. April 2009 Annas Bruder, mein Vater Nur wenige Wochen nach der Verlegung des Stolpersteins starb mein Vater Fritz Lehnkering im Alter von fast 89 Jahren. Nachdem auch er das Geschehene jahrzehntelang verdrängt hatte, stellte er sich in den letzten Jahren einem schmerzhaften Erinnerungsprozess. Am Tag der Stolperstein-Verlegung bekannte er erstmalig öffentlich: "Meine Schwester war geistig behindert." Eine seiner letzten Banküberweisungen war eine Spende für die Verlegung eines weiteren Stolpersteins. Dieser wurde am 2. März 2010 vor dem Nachbarhaus in der Düsseldorfer Str. 36 verlegt. Der Stein erinnert an Otto Müller, der im Alter von 20 Jahren "Euthanasie"-Opfer in Meseritz-Obrawalde wurde. Ob sich die Nachbarn Anna und Otto kannten, weiß niemand. Nun bilden diese beiden ewig jungen Menschen im Tod wahrlich eine Schicksalsgemeinschaft. Inzwischen gibt es weitere Stolpersteine für Mülheimer Opfer der "Euthanasie", so zum Beispiel der Stein für Benjamin Traub, der in Hadamar ermordet wurde. Nachtrag: Mein herzlicher Dank geht insbesondere an Friedrich Wilhelm von Gehlen und Hans-Dieter Strunck vom Mülheimer Arbeitskreis Aktion Stolpersteine - nicht nur für die Fotos, sondern auch für ihre persönliche Anteilnahme. Last not least - ich habe mich gefreut, dass Marion und meine "alten" Schulfreundinnen Ursel und Gudrun dabei waren.
Annas Biografie (von H.D. Strunck, Mülheim a.d. Ruhr) Widerstand und Verfolgung in Mülheim an der Ruhr
31.3.2009
2.4.2009 Zur interaktiven Stolperstein Karte Nordrheinwestfalen
Am 5. Juni 2024 verlegte Gunter Demnig eine Stolperschwellle in Bedburg-Hau
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