wie so oft ermöglichen mir alte Fotos einen Blick in die
Vergangenheit. Ein Familienfoto aus dem Jahr 1947 zeigt meine
Eltern, meine Großmutter, meine jüngere Schwester und mich. Dein
Bruder Fritz hat 1945 geheiratet und eine Familie gegründet, die du
nicht mehr kennenlernen konntest. Du mochtest kleine Kinder ganz
besonders. Wie sehr hättest du dich über deine kleinen Nichten und
Neffen gefreut. Deine Mutter schaut auf dem Foto, das sieben Jahre
nach deinem Tod entstand, ernst und verschlossen in die Kamera.
Eigentlich wäre es naheliegend, dass sie das kleine Mädchen, das auf
wackeligen Beinen direkt neben ihr steht, stützt. Aber sie berührt
das Kind nicht einmal. Ihre ganze Haltung strahlt Einsamkeit aus.
Ich erkenne darin ihre Unnahbarkeit wieder, an die ich mich aus
Kindertagen erinnere. Der Arm deines Bruders liegt beschützend auf
der Schulter seiner jungen Frau. Auch sein Blick ist ernsthaft. Umso
mehr fällt das offene und warmherzige Lächeln meiner Mutter auf. Sie
ist es, die Wärme und Nähe in unser Leben bringt und mit zahlreichen
Geschichten über ihre Kindheit und Jugend in einem kleinen Dorf im
Westerwald unsere Fantasie beflügelt. Im Gegensatz dazu bleiben die
Kindheitserinnerungen deines Bruders an Sterkrade und Mülheim lange
Zeit weitgehend im Dunkeln – und dies, obwohl wir, seine eigenen
Kinder, in unmittelbarer Nähe aufwachsen. Erst kürzlich sind mir auf
dem Foto Schatten aufgefallen, die zufälligerweise hinter deinem
Bruder und deiner Mutter an die Wand geworfen werden. Man könnte sie
als Metaphern deuten für die düstere Last, die auf den beiden liegt.
Du fehlst auf dem Foto und dennoch bist du da. Wie sehr hat das
Schweigen sie und damit uns alle belastet.
Ich
wurde sechs Jahre nach deinem Tod geboren. Doch das erklärt nicht,
warum ich bis zu der zufälligen Entdeckung deines Namens nie nach
dir gefragt und beim Gemunkel über dein Schicksal „weggehört“ habe.
Eventuell
war es die Atmosphäre von "diffusem Schweigen und dem
Sich-nicht-trauen-zu-fragen"
(Zitat von Daniela Martin), die in so vielen Familien
herrschte und mich als junger Mensch davor zurückscheuen ließ,
meinen Vater nach unserem Familiengeheimnis, mich nach dir und
deinem Schicksal zu erkundigen.
Seitdem ich 2003
zum ersten Mal schwarz auf weiß gelesen habe, welches Unrecht dir
widerfahren ist, fühle ich mich dafür verantwortlich, an dich zu
erinnern und das familiäre Schweigen zu beenden. Ich bin sehr froh,
denn im Unterschied zu manch anderen betroffenen Familien stößt
meine Erinnerungsarbeit in unserer Familie auf Interesse und
Unterstützung. ...
Ausschnitt aus einem meiner Briefe an Anna im Buch
"Annas Spuren -
Ein Opfer der NS-Euthanasie"
siehe auch zunehmende Erinnerungsarbeit
von Angehörigen
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